Seine Gedanken weilten bei denen, die er hinter ihnen finden sollte. So ritt er scharf fast eine halbe Stunde lang, bis der Wald sich plötzlich lichtete und eine Landschaft vor ihm lag, die jedes fremde Auge mit Entzücken erfüllt haben würde. Ein Tal, von mehreren Bächen durchzogen, die dem Karassu zueilten und deren Lauf von fast noch grünen Bäumen begleitet wurde, dehnte sich breit und gemächlich vor ihm aus. Zur Linken war es begrenzt von einem sanft im Halbkreis zurückweichenden Walde, vor ihm, jenseits des Tals, zog sich ein mäßiger Hügel hinauf, bedeckt mit Wald und Obstbäumen, die ein Schloss umrahmten, dessen Gemäuer durch das Laub hervorblickte. Nördlich von dem Schlosse, zur rechten Hand des Reiters, zeigten sich am Fuße des Hügels nach dem Karassu hin die Häuser eines kleinen Orts.
Lieblicheres und zugleich Edleres als die Formen des sanft schwellenden Hügels und der Umrisse der Baumgruppen vermochte man sich nicht zu denken. Hier und dort weideten Herden, von Knaben und Männern in der einfachen, aber malerischen Landestracht gehütet, eine Herde Füllen trabte über den weichen Wiesengrund, sich ergötzend in lustigen Sprüngen – es war in der Tat ein Bild des Paradieses!
Daniel Garika ritt etwas langsamer durch das Tal dem Schlosse zu. Er fürchtete, man könne ihn von dort aus bemerken, und mochte sich nicht zu eilig zeigen. Die Landleute, an denen er vorüberkam, zogen demütig ihre flachen Mützen; sie betrachteten ihn immer noch als den Herrn des Landes, über das der Großvater Daniels als König geherrscht hatte, bis Russland die Länder, welche den Süden des Kaukasus umspannen, unter sein Zepter zwang. Auch Schloss und Stadt Dari, die vor dem Reiter lagen, hatten einst den Garikas gehört.
Jetzt waren sie als Mitgift für Daniels Schwester Nina an den Grafen Michael Brazow gefallen, einen Russen.
Es war ein kleines, aber schönes Königreich gewesen, über welches die Garikas einst geboten. Jetzt war dem Königsenkel nichts geblieben als der Ertrag des Gebietes, das zu Garika gehörte, und sein Rang als Milizoffizier. Freilich war der Landstrich, den er sein nannte, immer noch so groß als manches deutsche Fürstentum.
Aber die Herrschaft lag in den Händen des Zaren und seines mächtigen Stellvertreters, des Generalgouverneurs von Cis- und Transkaukasien, damals Fürst Woronzow. Daniel Garika galt nicht mehr, vielleicht sogar weniger als jeder russische Untertan.
Kamen dem Fürsten düstere Gedanken, als er durch das Tal ritt? Fast schien es so, denn seine Stirn war gefaltet, seine Miene finster. Nach dem Tode seines Vaters und seiner Mutter in Petersburg erzogen, hatte er freilich die Macht Russlands bewundern und fürchten gelernt; jeder Gedanke daran, dass er einst wieder als eigener Herr in diesem Lande gebieten könne, war längst in ihm erstickt; über die Bemühungen Schamyls und seiner Genossen, dem riesigen Gegner Russland Widerstand entgegenzusetzen, zuckte er mitleidig und fast verächtlich die Achseln. Aber das Königsblut wallte den noch zuweilen in ihm auf. Er liebte Sophia, die Schwester Brazows. die sich seit einiger Zeit in Dari zum Besuch befand, aber er liebte sie nicht allein. Ein Reiteroffizier, Paul Ombrazowitsch, ein Freund und früherer Waffengefährte Michael Brazows, der das Kommando über eine in der Nähe stehende Kavallerieabteilung führte, machte ihr eifrig den Hof. Paul Ombrazowitsch war, wie es hieß, der Sohn eines Kosakenführers. Sollte ein Mann, der dem niedern Adel angehörte, den Sieg davontragen über den Enkel eines Königsgeschlechts, das seinen Ursprung ein Jahrtausend hinaus verfolgen konnte und einst unter den Herrschergeschlechtern von Kolchis berühmt gewesen war?2
Am Fuße des Hügels angelangt, spornte Daniel Garika sein Ross wieder an und sprengte den gut gebahnten Weg hinauf bis in den Schlosshof. Das Schloss war demjenigen von Garika sehr ähnlich, aus verschiedenen Gebäuden von ungleicher Bauart und verschiedenem Alter zusammengesetzt, umgeben von einer nicht allzu festen Mauer. Auf dem Hof sprangen Diener herzu, das Pferd des Fürsten in Empfang zu nehmen. Er fragte nach der Gräfin Sophia. Sie sei mit dem Major Ombrazowitsch in den Park gegangen, lautete die Antwort, erst vor kurzem, und hätte die Weisung hinterlassen, Früchte, Gebäck und Liköre nach dem Springbrunnen zu bringen.
Daniel ging hastig nach dem Park, das Herz klopfte ihm vor Eifersucht. Dann aber siegte sein Stolz; er mäßigte seine Schritte und ging langsam nach dem Teile des Parks, in welchem sich der Springbrunnen befand.
Der Park von Dari war wie derjenige von Garika nur ein gelichteter Wald, aber eben deshalb umso schöner; die Kunst hätte hier nur verderben können.
Blutrote Buchenblätter bedeckten den Boden und dämpften die Tritte Daniels. Ranken von wildem Wein, Efeu und Winden verbanden wie Girlanden und durchbrochene Teppiche die starken Eichen und Buchen, die schlankstämmigen Lorbeer- und die Myrten- und Rosengebüsche.
Durch diesen zauberischen Gartenschritt Daniel dahin, bis er das Rauschen des Springbrunnens und ein helles Lachen hörte. Es kam ihm der Gedanke, zu hören, was Sophia mit dem Major spreche. Die Eifersucht ist stets misstrauisch, ja sie entsteht nur aus dem Misstrauen. Langsam und leise näherte sich Daniel dem Springbrunnen, und durch die bunten Blätter hindurch sah er Sophia auf einer Bank in der Nähe eines hölzernen Pavillons sitzen. Der Major stand vor ihr.
Sophia Brazow war keine regelmäßige Schönheit, aber ihr frisches Gesicht mit den zart geröteten Wangen, den dunklen, runden Augen war eins von denen, die im Sprechen Reiz und Leben gewinnen und durch die Beweglichkeit der Züge und durch den Ausdruck von Geist keine Betrachtung über die etwa mangelnde Schönheit aufkommen lassen. Die Form der Stirn und der Nase verrieten ein wenig den russischen Typus. Aber wenn sie lachte und die weißen Zähne durch die roten Lippen blitzten und die Augen so klar glänzten, erschien sie verlockend schön. Ihr ganzes Wesen trug den Stempel der Kraft, der Gesundheit und des Übermuts.
Sie mochte keine zwanzig Jahre alt sein, gewiss nicht darüber, und alles an ihr, der Teint, die Augen, die Lippen, das prächtige dunkle Haar, die gerundeten Formen der kaum mittelgroßen Gestalt, zeigte jene erste glänzende Frische der Jugend, die für sich allein schon oft Schönheit ist. Ihr Anzug war einfacher, als man ihn gewöhnlich bei den Russen des Orients, die ihn phantastisch ausschmücken lernen, findet; eine Art polnischer Schoßjacke, knapp anschließend, ein Seidenkleid, ein leichtes Hütchen und etwas Schmuck bildeten ihre ganze Toilette. Nur das fast rötliche Braun der Jacke und das helle Gelb des Kleides deuteten mit ihren lebhaften Farben auf den Orient.
Der Major war in seiner Dragoneruniform. Seine Gestalt war derjenigen Sophias ähnlich, nicht groß, kräftig, aber von guten Verhältnissen. Sein Gesicht zeigte den vollendeten Typus eines blonden Russen, die Augen nicht groß, aber glänzend, die Nase ein wenig emporgerichtet, die Stirn nicht hoch, aber voll Leben.
Hätte man sein Gesicht im Einzelnen prüfen wollen, so würde er die Probe der Schönheit schlecht bestanden haben. Und doch war der Eindruck, den er machte, durchaus kein ungefälliger. Auch in seinem Wesen lag Kraft und Gewandtheit, in seinen markierten Zügen Klugheit und Energie, seine ganze Erscheinung hatte etwas Abgerundetes, in sich Geschlossenes, das den entwickelten Mann kennzeichnet. Er hielt die Mütze in der Hand und sprach lebhaft mit Sophia. Die Sonne fiel auf sein rotblondes, starkes und gekräuseltes Haar, auf den stattlichen, wohlgeformten Schnurrbart und ließ sie wie Gold glänzen. So machte er den Eindruck eines kräftigen Soldaten, zugleich aber auch eines Mannes von geistiger Begabung und weltmännischer Durchbildung.
Ein wenig zu lebhaft waren seine Bewegungen, etwas zu scharf, fast lauernd war sein Blick. Der eifersüchtige Daniel mochte nicht so ganz Unrecht haben, wenn er behauptete, dem Major klebe etwas vom Parvenu oder wenigstens vom Abenteurer an. Es fehlte