Vater Höhrle hatte für seine Töchter vorausgedacht. Er trat neben sie, nahm sie bei der Hand und führte sie in den Flur eines befreundeten Hauses. Das Hinzutreten des schlichten Alten gab den armen, durch Putz verunzierten Mädchen wieder Ansehen und Würde. Man hörte keine Zurufe mehr.
Hans blieb der Mutter überlassen, die Mannes genug war, für ihn zu sorgen und sich über alles hinwegzusetzen.
Den ganzen Tag über hielten die Töchter zusammen mit dem Vater sich im Hause des Gastfreundes, und erst am Abend, als der Neumond über den Bergen stand und ein fahles Zwielicht, das alles in graue Schleier hüllte, über das Tal hin ausgoss, wagten sie es, eng an den Vater geschmiegt, der Mühle zuzustreben. Ohne die Wohnstube noch einmal zu betreten, schlichen sie die Holzstiege hinaus zu ihrer Kammer, wo der Gott des Schlafes die Müden und Vergrämten in seine Arme nahm, sie leise wiegte und sie vergessen ließ, was der Tag ihnen Schweres zugefügt hatte.
5. Kapitel
Der folgende Montag war in der Familie Höhrle ein kritischer Tag erster Ordnung. Lange vor dem Hahnenschrei donnerte die Müllerin in der Küche herum. Zuweilen schlug es ein, und Blechkannen und zinnerne Löffel tanzten klirrend auf dem Wasserstein. Alles, was im Hause als Schmarotzer lebte, machte, dass es unter den Füßen fortkam. Das Volk der Mäuse floh in die Löcher hinter die Lamperien, die Katzen dehnten sich wie die Gummischläuche und verzogen sich durch einen Türspalt hinaus nach dem Kornboden, und Röse Ricke, die gekommen war, ihre Kaffeemilch zu holen, entfernte sich in eiligen Sprungschritten wie ein Wiedehopf.
Vater Höhrle, der im Stalle unter der Küche seine Kühe putzte, bekreuzte sich, als er zu seinen Häupten das Unwetter brausen hörte. Es gab wohl niemand auf der Welt, der ihn für einen tapferen Mann gehalten hätte, aber seiner Frau gegenüber war er geradezu ein Feigling. Mit Zittern stieg er die Treppe hinauf, als er zwischen mancherlei unartikulierten Lauten kurz und scharf akzentuiert den Namen »Höhrle, Höhrle!« unterscheiden konnte. Er fand die Küche leer und bemühte sich nach der Wohnstube hinüber. In dieser war das Tageslicht durch das Zuziehen der Vorhänge etwas abgetönt, und da Mutter Höhrle unbeweglich und mit strengem Antlitz am Kopf des Tisches saß, so gewann das sonst so anspruchslose Gemach die ernste Würde eines Gerichtssaales. Vater Höhrle wusste wohl, dass er der Angeklagte, ja der Verurteilte war, ob die Verhandlungen sich in die Länge zogen oder nicht, und deshalb wollte er wenigstens Zeit sparen und unterbrach das verlegene Schweigen mit den Worten: »Warum hast du mich hierher gerufen?«
»Das fragst du noch,« wetterte die erregte Frau los, »wer hat all die Schmach von gestern über unser Haus gebracht?«
Vater Höhrle hätte einfach sagen können: »Dein Hochmut;« aber er schwieg, und sie fuhr fort, die ganze Anklage in immer neuen Fragesätzen aufbauend: »Wer drückt seine Familie, dass sie sich beugen muss vor hergelaufenem Volk? Wer bleibt an altem Herkommen kleben und lässt sich von dem ersten besten Hereingeplackten aus dem Sattel heben? Könnten nicht auch wir wie andere Menschen Geld verdienen und in einer Chaise fahren? Wer isst seine Suppe mit dem Kaffeelöffel und glaubt mit seinem alttestamentlichen Eselbetrieb siegen zu können über die Planwagen der Firma Groß und Moos, die eine Schiffsladung Weizen auf ihrem Rücken tragen?«
Mit dem letzteren Satz hatte sie das Geschäftsinteresse vor ihre eitlen Wünsche als Vorspann gekoppelt, und der Wagen rutschte in der Tat in die Höhe.
Vater Höhrle in seiner stillen Art seufzte tief und sagte nachgiebig: »So gib denn das Einlagebüchelchen von der Sparkasse heraus.«
Die Müllerin erhob sich großartig, und wie die Hand einer Fürstin irgendeinem Subalternen gnädig ihre Photographie überreicht, so überreichte sie ihrem Manne das kleine Heftchen mit dem blauen Umschlag. Vater Höhrle nahm’s entgegen, und wenige Minuten später sah man ihn bedrückten Herzens und schleppenden Ganges dem Pfarrdorfe zuschreiten, wo die Sparkasse ihren Sitz hatte. Er wusste, dass mit dem heutigen Tage das Geschick der Mühle zu Husterloh entschieden war. Er wusste, dass der Weg, den er und die Seinen seither, wenn auch langsam aufwärtssteigend gegangen waren, jetzt abwärts führte. Er sah ihn tief unter sich steiniger werden, sich zu einem Pfade verschmälern, aber er sah nicht, wo er endete. Es war das erste Mal, dass Vater Höhrle von seiner Kasseneinlage Geld zurückverlangte, und wie er so vor den abgeblendeten Scheiben des Büros stand, hinter denen er die Kassenbeamten wie schwarze Schattenrisse an einer Wand sich bewegen sah, stieg ihm die Schamröte ins Gesicht, und er wollte umkehren. Doch er klopfte zaghaft und ganz leise, fast so, als ob er wünschte, dass man ihn drinnen nicht hören solle. Ihm war’s, als ob noch irgendetwas sich ereignen würde zu seinen Gunsten. Konnte nicht der Strahl irgendeiner überirdischen Erleuchtung seiner Frau gezeigt haben, dass sie einen Irrweg ging? Konnte nicht noch in letzter Sekunde ein Bote hinter ihm nachkommen und ihn von dem verhassten Schalter hinwegreißen?
Ach nein. Nichts von alledem geschah. Die Leute da drinnen mit ihren Dividendenohren hatten nicht bloß gehört, dass überhaupt einer klopfte, sie hatten auch gehört, dass einer klopfte, der gekommen war, Geld zu holen. Im Nu klapperten die Goldfüchse auf dem hellackierten Zahltisch, und Vater Höhrle war sein blaues Büchlein los.
Jetzt, wo die Würfel gefallen waren, auf dem Heimwege, redete der Müller sich selber Mut zu. War denn das Geld, das er in seiner Tasche trug, nun wirklich schon verloren? Ach nein, es wechselte ja nur den Namen. Aus dem Rentenkapital wurde Betriebskapital, das reiche Zinsen tragen konnte. So sprach er zu sich selber wie ein Makler, der ein Geschäft machen will, aber er glaubte auch wieder sich selber so wenig, wie er einem wildfremden Geschäftsvermittler geglaubt haben würde.
Wie er so blinzelnd seines Weges ging, erregte die Auslage eines Krämers seine Aufmerksamkeit. Kleine prall gefüllte Säckchen standen eines neben dem andern, eine dichte Reihe, und jedes trug einen bilderreichen Ausdruck. In der linken Ecke der Gebinde sah man eine Windmühle, rechts eine baufällige Wassermühle und über beiden breit und protzig sich hinflegelnd mit ihren Schornsteinen und ihren Silos die Anlage der Firma Groß und Moos. Vater Höhrle suchte den Sinn der Darstellung zu ergründen, als eine Schulter sich an ihn drückte, die ein Viehtreiberknüppel im Lauf der Jahre tiefer gezogen hatte, als ihre Kollegin auf der anderen Seite. Im selben Augenblick hörte er die näselnde Stimme von Mordche Rimbach:
»Stehst du da und betrachtest dein Elend. Groß und Moos wird sich legen über euch Bachmüller, wie der Schnee sich legt auf alte Heustadel bis sie zusammenbrechen. Höhrle, noch weiß ich dir einen Käufer, gib deine Mühle her. Werd’ ich verdienen an dem Handel eine Kleinigkeit, du aber viel Geld.«
»Paperlapp,« entgegnete der Vater Höhrle, »eine Mühle ist eine Goldgrube, heißt’s im Sprichwort. Was andere können, vermögen auch wir.«
»Dass du Recht hättest,« sagte der Jude und zog eine Tüte mit Mehl gefüllt aus der Tasche.
»Da sieh zu, kannst du herstellen eine Qualität wie diese? Du erschrickst, du wirst weiß, und der Ellenbogen deines Rockes ist grün. Du hast deine Hand nicht zur Faust gemacht und hast doch was mitgenommen aus dem Wartezimmer der Sparkasse. Dein Ärmel verrät, wo du warst. Vater Höhrle, – so wahr ich gesund bleiben will, mein ich’s ehrlich – behalte dein Geld, deine Mühle aber gib her.«
Diese Zumutung stachelte in dem Mühlenbesitzer alles auf, was an Bauerntrotz in seiner zaghaften Seele lebte. »Wenn du reiten willst,« sagte er gereizt, »dann setz’ dich der eignen Geiß auf den Rücken, meine Sachen lass mich selber ordnen,« damit drehte er dem Juden den Rücken und ging.
Dieser