»Gestatten Sie zuerst die Frage, mit wem ich die Ehre habe?« fragte Nosdrjow, näher herantretend.
»Ich bin der Polizeihauptmann.«
»Und was wünschen Sie?«
»Ich komme, um Ihnen eine mir eben zugegangene Meldung mitzuteilen, nämlich, daß Sie sich im Anklagezustand befinden, bis der gegen Sie schwebende Prozeß erledigt ist.«
»Unsinn, was für ein Prozeß?« sagte Nosdrjow.
»Sie sind in den Fall des Gutsbesitzers Maximow verwickelt, den Sie in trunkenem Zustande durch Rutenschläge persönlich beleidigt haben sollen.«
»Sie lügen! Ich habe einen Gutsbesitzer Maximow nie im Leben gesehen.«
»Mein Herr, lassen Sie es sich gesagt sein, daß ich Offizier bin. Das können Sie Ihrem Diener sagen und nicht mir.«
Tschitschikow wollte gar nicht abwarten, was Nosdrjow darauf erwidern würde; er ergriff schleunigst seine Mütze, schlüpfte hinter dem Rücken des Polizeihauptmanns hinaus, stieg in seinen Wagen und befahl Sselifan, die Pferde im Galopp anzutreiben.
Kapitel 5
Unser Held hatte ordentlich Angst bekommen. Obwohl der Wagen im rasendsten Tempo dahinjagte, und Nosdrjows Besitzung schon längst hinter den Feldern, Anhöhen und Hügeln verschwunden war, blickte er noch immer voller Angst zurück, als setzte man ihm nach. Er atmete schwer, und als er die Hand versuchsweise aufs Herz legte, fühlte er, daß es so heftig hüpfte wie eine Wachtel in einem Käfig. »Das war mal ein Dampfbad! Ist das ein Kerl!« An die Adresse Nosdrjows ergingen noch viele schwere und kräftige Verwünschungen; sogar einige unanständige Worte waren darunter. Aber was soll man machen? Ein aufgebrachter Russe kann gar nicht anders! Die Sache war auch durchaus kein Scherz. »Man mag sagen, was man will,« sagte er zu sich selbst, »aber wäre der Landpolizeimeister nicht rechtzeitig gekommen, so käme ich vielleicht nicht mehr in die Lage, die Welt Gottes zu schauen! Wie eine Blase auf dem Wasser wäre ich geplatzt, ohne jede Spur, ohne Nachkommen, ohne meinen künftigen Kindern ein Vermögen und einen ehrlichen Namen zu hinterlassen!« Unser Held war um seine Nachkommenschaft außerordentlich besorgt.
– So ein schlechter Herr! – dachte Sselifan. – So einen Herrn habe ich noch nie gesehen. Dem könnte ich einfach ins Gesicht spucken! Laß lieber einen Menschen hungern, aber einen Gaul mußt du doch füttern, denn der Gaul liebt den Hafer. Das ist seine Nahrung; was für uns zum Beispiel unsere Kost ist, das ist für ihn der Hafer: er ist seine Nahrung. –
Auch die Pferde schienen ungünstig über Nosdrjow zu denken; nicht nur der Braune und der Assessor, sondern auch der Scheck waren schlechter Laune. Obwohl er immer einen schlechteren Hafer bekam und Sselifan ihm seine Portion niemals anders in den Trog schüttete als mit den Worten: »Ach, du Schuft!«, so war es doch immerhin Hafer und nicht gemeines Heu; er verzehrte den Hafer mit Hochgenuß und steckte seine lange Schnauze häufig in die Tröge seiner Freunde, um zu versuchen, was für eine Beköstigung sie bekamen, besonders, wenn Sselifan nicht im Stalle war. Aber diesmal kriegte er nichts wie Heu – das war gar nicht gut! Alle waren unzufrieden.
Alle diese Unzufriedenen wurden aber bald in ihren Betrachtungen auf die unerwartetste Weise unterbrochen. Alle, auch der Kutscher, kamen erst dann zur Besinnung, als ein mit sechs Pferden bespannter Wagen sie überrannte und fast über ihren Köpfen das Geschrei der im Wagen sitzenden Damen und die Flüche und Drohungen des fremden Kutschers erklangen: »Ach, du Spitzbube! Ich habe dir doch laut zugeschrien: ›Wende nach rechts, du Krähe!‹ Bist du gar betrunken?« Sselifan sah sein Versehen wohl ein, aber da der Russe seine Schuld vor anderen nicht gerne zugibt, so nahm er eine stolze Haltung ein und sagte: »Und was fährst du so schnell? Hast du deine Augen etwa in der Schenke versetzt?« Gleich darauf versuchte er, seinen Wagen zurückzuziehen, um sich aus dem fremden Gespann zu befreien; es war aber nichts zu machen: alles war durcheinander geraten. Der Scheck beschnüffelte neugierig die neuen Freunde, die plötzlich rechts und links von ihm standen. Die Damen, die im Wagen saßen, verfolgten dies alles mit ängstlichen Mienen. Die eine war alt, die andere blutjung, vielleicht sechzehnjährig mit goldigem Haar, das hübsch und geschickt um ihr niedliches Köpfchen angeordnet lag. Das hübsche Oval ihres Gesichts rundete sich und schimmerte in einem durchsichtigen Weiß wie ein frisches Eichen, das frisch gelegt, von den braunen Händen der prüfenden Haushälterin gegen das Licht gehalten wird und die leuchtenden Sonnenstrahlen durchläßt; so durchsichtig waren auch ihre feinen Ohren, die im warmen Lichte, das sie durchdrang, erglühten. Der Schreck, den ihre offenen, gleichsam erstarrten Lippen ausdrückten, und die Tränen in den Augen – alles war an ihr so reizend, daß unser Held sie einige Minuten lang betrachtete, ohne dem Durcheinander von Menschen und Pferden auch die geringste Beachtung zu schenken. »Zurück, du Nowgoroder Krähe!« schrie der fremde Kutscher. Sselifan zog die Zügel an, der fremde Kutscher machte dasselbe, die Pferde wichen ein wenig zurück, sogleich vermischte sich aber alles von neuem. Dem Schecken gefiel die neue Bekanntschaft, die er bei dieser Gelegenheit machte, so sehr, daß er nicht mehr vom Flecke wollte, auf den er durch die Macht des Schicksals geraten war; er legte seine Schnauze seinem neuen Freunde auf den Hals und schien ihm etwas ins Ohr zu flüstern; vermutlich einen großen Unsinn, denn der Fremde schüttelte beständig die Ohren.
Der Skandal lockte die Bauern aus dem Dorfe herbei, das zum Glück in der Nähe lag. Da solch ein Schauspiel für einen Bauern ein Segen Gottes ist, wie für den Deutschen die Zeitung oder der Klub, so sammelte sich bald um die Equipagen eine ganze Menge; nur die alten Weiber und die kleinen Kinder blieben im Dorfe zurück. Man entwirrte die Stranghölzer und versetzte dem Schecken einige Püffe auf die Schnauze, so daß er zurückwich; mit einem Worte, die Wagen und die Pferde wurden getrennt. War es der Ärger, der die fremden Pferde befiel, weil man sie von ihren Freunden getrennt hatte, oder war es bloßer Eigensinn – sie blieben jedenfalls wie angewurzelt stehen, wie wütend der Kutscher auf sie auch einhieb. Die Teilnahme der Bauern nahm ungeheure Ausmaße an. Ein jeder kam mit seinem Ratschlag: »Geh, Andrjuschka, nimm du das rechte Beipferd am Zaum, Onkel Mitjaj soll sich aber aufs Mittelpferd setzen! Setz dich, Onkel Mitjaj!« Der hagere, lange, rotbärtige Onkel Mitjaj bestieg das Mittelpferd und wurde sofort dem Glockenturm einer Dorfkirche ähnlich oder richtiger einem Haken, mit dem man das Wasser aus dem Brunnen heraufholt. Der Kutscher hieb wieder auf die Pferde ein, doch ohne jeden Erfolg: Onkel Mitjaj hatte nicht viel erreicht. »Halt, halt!« schrien die Bauern. »Onkel Mitjaj, setz du dich auf das Beipferd, und auf das Mittelpferd soll sich Onkel Mitjaj setzen!« Onkel Minjaj, ein breitschultriger Bauer mit pechschwarzem Bart und einem Bauch wie jener Riesensamowar, in dem das wärmende Getränk für einen ganzen frierenden Markt gekocht wird, bestieg nicht ungern das Mittelpferd, das sich unter ihm fast bis zur Erde senkte. »Jetzt geht die Sache!« schrien die Bauern. »Hau zu, hau zu! Gib ihm die Peitsche, dem Braunen! Was zappelt er wie eine Mücke?« Als sie aber sahen, daß die Sache gar nicht vorwärts ging und das Hauen nichts half, bestiegen Onkel Mitjaj und Onkel Minjaj gemeinsam das Mittelpferd, während sich auf das Beipferd Andrjuschka setzte. Schließlich verlor der Kutscher die Geduld und jagte wie den Onkel Mitjaj so auch den Onkel Minjaj davon; und er tat gut daran, denn von den Pferden stieg sofort solch ein Dampf auf, als hätten sie, ohne Atem zu holen, mindestens eine Station zurückgelegt. Er ließ sie eine Minute ausruhen, und dann begannen sie ganz von selbst zu laufen. Während dieser Ereignisse betrachtete Tschitschikow sehr aufmerksam die junge Unbekannte. Er versuchte einigemal, mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber es gelang ihm nicht. Die Damen fuhren indessen davon, das hübsche junge Mädchen mit den feinen Gesichtszügen und der feinen Taille verschwand wie eine Vision, und nur der Wagen, die Straße, die dem Leser schon bekannten drei Pferde, Sselifan, Tschitschikow und die leeren, glatten Felder blieben zurück. Überall im Leben, wie in seinen rohen, armseligen, verschimmelten, unappetitlichen Schichten, so auch unter den eintönig kalten, langweilig sauberen Ständen, überall begegnet dem Menschen wenigstens einmal im Leben eine Erscheinung, die allem, was er bisher gesehen hat, unähnlich ist und die in ihm wenigstens einmal ein Gefühl weckt, das von allen Gefühlen, die er je empfunden, verschieden ist. Überall, allen Leiden