„Komm, lass uns zurückgehen“, sagte Emily, während sie sich aus Daniels Umarmung löste und stattdessen seine beiden Hände ergriff.
„Bist du dir sicher?“, fragte er.
Sie nickte. In diesem Augenblick wünschte sich Emily nichts sehnlicher, als Chantelle von den Neuigkeiten zu erzählen. Plötzlich fühlte sie sich selbstbewusst und stolz und wollte auch, dass die ganze Welt davon wusste. Sie wollte sich auf die Dachterrasse ihrer Pension stellen und die Neuigkeiten über die ganze Stadt hinwegschreien, damit jeder im Umkreis von mehreren Kilometern sie hören könnte.
Doch während sie den Strand in Richtung Pension entlanggingen, stieg in Emily wieder eine gewisse Nervosität auf. Sie hielt nicht gerne große Ansprachen, aber sie würde es niemals schaffen, zurück ins Haus zu schleichen, ohne über ihre Abwesenheit befragt zu werden. Ganz zu schweigen von dem Ring. Der war wohl kaum unauffällig. Jeder, der Augen im Kopf hatte, würde ihn sofort glitzern sehen.
Unwillkürlich tauchten in Emilys Kopf all die Gesichter auf, die sie anstarren würden – einige davon mit unterstützender Miene, andere eher auf abwehrende Weise. Jetzt im Moment gehörte ihre Verlobung nur ihr und Daniel und niemandem sonst. Es war etwas ganz Privates, ein Zustand reinen Glücks. Doch sobald sie die Neuigkeiten verkündeten, öffneten sie diesen Bereich ihres Lebens für Kritik und gegensätzliche Meinungen.
Vielleicht kommt es ja auch ganz anders, dachte Emily, während sie entlangschlenderte. Vielleicht hatten sich die Stadtbewohner in ihrer Abwesenheit ja an den Mimosas vergriffen und waren so mit Trinken, Tanzen und fröhlichem Beisammensein beschäftigt, dass sie ihre Rückkehr gar nicht bemerken würden.
Schließlich erreichten sie den kleinen Pfad, der vom Strand hinauf zu der Straße führte, in der sie lebten. Emily kletterte den steilen Abhang zuerst hinauf, Daniel folgte ihr. Als sie durch die Bäume auf den Gehweg traten, konnten sie die Lichter der Pension sehen und die Musik und das Lachen hören, das der Wind zu ihnen hinübertrug. In ihrem Bauch flatterten Schmetterlinge umher.
„Bereit?“, fragte Daniel, als er neben sie trat.
Emily holte tief Luft. Trotz ihrer Nervosität fühlte sie sich so selbstsicher wie nie zuvor, so als ob sie es mit der ganzen Welt aufnehmen könnte.
Hand in Hand liefen sie langsam die Einfahrt entlang, vorbei am Kutscherhaus, in dem Daniel einmal gewohnt hatte, und anschließen die Stufen der Veranda hinauf und durch die Eingangstür der Pension in Sunset Harbor. Sofort wurden sie von Wärme und Helligkeit umfangen. Der beruhigende Duft nach Thanksgiving-Essen – Truthahn, Preiselbeeren, Mais, Kürbiskuchen – lag in der Luft. Augenblicklich spürte Emily die Liebe, die in der Pension herrschte.
In diesem Moment stürmte eine lachende Serena aus dem Esszimmer in den Flur. Als sie Daniel und Emily erblickte, lächelte sie sie aus ihren rotbemalten Lippen an. Ihre Wangen waren leicht gerötet und Emily fragte sich unwillkürlich, ob das wohl etwas mit dem andauernden Flirt zu tun hatte, der an diesem Abend zwischen ihr und Owen, dem Klavierspieler, stattfand.
„Oh hey“, sagte Serena, als sie Emilys Blick auffing. „Ich habe mich schon gefragt, wohin ihr zwei verschwunden seid.“
Emily und Daniel sahen sich verschmitzt an. Auf frischer Tat ertappt.
Plötzlich brachte Emily kein Wort über die Lippen, wie ein Kind, das gerade dabei erwischt worden war, wie es Kekse aus der Dose stahl. Sie sah Daniel hilfesuchend an, doch es machte einen noch schlimmeren Eindruck als sie. Er wirkte wie ein Reh im Scheinwerferlicht.
Serena runzelte die Stirn. Dann verengte sie argwöhnisch die Augen und ihr Mund verzog sich zu einem leichten Grinsen. Sie ahnte offensichtlich, dass die beiden etwas angestellt hatten.
„Hm“, meinte sie, während sie wie ein Detektiv vor ihnen auf- und abging. „Schnee im Haar. Sand auf der Hose. Ich nehme an, ihr wart am Strand.“ Sie tippt sich auf das Kinn. „Aber warum nur?“ Sie hielt einen Augenblick inne, bevor sich ein Ausdruck der Erleuchtung auf ihrem Gesicht ausbreitete. Nach Luft schnappend griff sie nach Emilys linker Hand und suchte nach der Bestätigung ihrer Vermutung. Beim Anblick des Rings weiteten sich ihre Augen und ihr Mund fiel auf.
„Oh. Mein. Gott! Ihr seid verlobt!“
Emily spürte, wie sich ihre Wangen röteten. Das war das erste Mal, dass jemand das Wort „verlobt“ im Zusammenhang mit ihr sagte, und es fühlte sich surreal an. All diese Jahre lang hatte sie sich danach gesehnt und davon geträumt und nun hatte sie endlich dieses Stadium der „Verlobung“ erreicht.
Schnell nickte sie. Serena kreischte und zog sie beide in eine unbeholfene Umarmung, in der Ellbogen und Arme aneinanderstießen.
„Bin ich die erste, die es erfährt?“, wollte Serena wissen, als sie sich von ihnen löste. Dabei war die wachsende Aufregung in ihrer Stimme unüberhörbar.
„Ja“, bestätigte Daniel. „Aber könntest du bitte Chantelle zu uns bringen? Ich will, dass sie es weiß, bevor der Rest davon erfährt.“
„Natürlich!“, rief Serena.
Mit vor Tränen glänzenden Augen warf sie einen letzten Blick auf Emilys Ring, bevor sie überschwänglich davonsprang. Emily stieß eine Mischung aus nervösem Kichern und verlegenem Stöhnen aus.
Daniel drückte ihre Hand aufmunternd. Es fühlte sich so an, als würde er ihr gratulieren, die Reaktion der ersten Person überstanden zu haben, und ihr gleichzeitig Mut für die nächste Enthüllung zusprechen, die weitaus wichtiger sein würde.
Emily holte tief Luft. Ihr Herz schlug wild in ihrer Brust. Das war er. Der große Moment.
Als sich die Tür zum Esszimmer einen Spalt breit öffnete, schwollen die Geräusche der Feier an. Dann tauchte Chantelles Gesicht auf, das sich schüchtern umsah. Emily hörte Serenas Stimme auf der anderen Seite, die Chantelle dazu ermutigte, in den Flur hinauszutreten.
„Geh schon, du musst dir keine Sorgen machen!“
Chantelle trat vollständig aus dem Zimmer. Sofort schloss Serena die Tür hinter ihr, woraufhin der Feierlärm wieder nachließ. Plötzlich empfand Emily die Stille als erdrückend.
Am einen Ende des Flurs stand eine verängstigt aussehende Chantelle. Am anderen Ende standen Emily und Daniel, denen man ihre Nervosität ebenso ansehen konnte. Emily bedeutete dem Kind, näher zu kommen und sofort stürmte Chantelle auf sie zu.
„Stecke ich in Schwierigkeiten?“, fragte sie mit leiser, zitternder Stimme. „Serena meinte, dass ihr mit mir sprechen wollt.“
„Auf keinen Fall!“, rief Emily. Dann zog sie Chantelle in eine feste Umarmung. „Du steckst definitiv nicht in Schwierigkeiten!“ Dabei strich sie über Chantelles weiches, blondes Haar. „Daddy und ich wollen dir nur etwas sagen. Es ist nichts Schlimmes.“
Chantelle löste sich aus der Umarmung, um Emily mit gerunzelter Stirn und skeptischem Blick in ihren blauen Augen anzuschauen. Obwohl sie gerade einmal sieben Jahre alt war, hatte sie schon gelernt, Erwachsenen misstrauisch und argwöhnisch gegenüberzutreten.
„Schickt ihr mich zurück nach Tennessee?“, vermutete Chantelle geradeheraus, wobei sie ihr Kinn mit gespielter Gleichgültigkeit anhob.
„Nein!“, rief Daniel und schüttelte den Kopf. Wenn die Vorstellung nicht so traurig wäre, dann hätte die ganze Situation etwas Lustiges an sich. Um Chantelles Ängste so schnell wie möglich auszulöschen, ging Daniel neben seiner Tochter in die Hocke, sodass er auf einer Augenhöhe mit ihr war. Dann nahm er ihre Hände in seine, holte tief Luft und verkündete: „Emily und ich werden heiraten.“