Emily beendete den Anruf und ging zurück zur Flüsterkneipe, zu dem fröhlichen Gelächter von Roy und Daniel. Alte Busenfreunde wieder vereint.
„Okay“, sagte Roy und leerte den letzten Schluck aus seinem Glas. „Ich denke, es ist wahrscheinlich an der Zeit, dass ich mich verabschiede. Sieht so aus, als hättest du Gäste zu versorgen.“
Emily geriet bei dem Gedanken, dass Roy gehen würde, in Panik. „Ich habe Mitarbeiter, die sich um alles kümmern. Es ist in Ordnung für uns, Zeit miteinander zu verbringen. Du musst nicht gehen.“
Roy bemerkte ihren von Panik ergriffene Ausdruck. „Ich meinte nur, dass es Zeit ist, ins Bett zu gehen. Schlafen?“
„Du meinst du bleibst?“, sagte Emily überrascht. „Hier?“
„Wenn du Platz hast?“, sagte Roy kleinlaut. „Ich wollte nicht anmaßend sein.“
„Natürlich kannst du bleiben!“, rief Emily aus. „Wie lange planst du hier zu sein?“
„Bis zur Hochzeit, wenn das kein Problem ist. Ich könnte, wenn nötig, ein bisschen mit den Vorbereitungen helfen.“
Emily war verblüfft. Nicht nur war ihr Vater hier, sondern er hatte vor, über eine Woche hier zu bleiben! Es war wirklich ein Traum, der wahr wurde.
„Das wäre wundervoll“, sagte sie.
Sie gingen nach oben und gaben Roy das Zimmer neben seinem Arbeitszimmer. Emily wusste, dass er irgendwann dort hinein gehen würde, wahrscheinlich alleine.
„Ist dieses Zimmer in Ordnung für dich?“, fragte sie.
„Oh, ja. Es ist sehr schön“, antwortete Roy. „Und direkt neben meiner geheimen Treppe.“
Emily runzelte die Stirn. „Deine was?“
„Sag mir nicht, dass du sie nie gefunden hast“, sagte Roy. In seinem Auge blitzte ein Funken Unheil auf, eines, das den Streifen Wahnsinn offenbarte, dem er einmal verfallen gewesen war. Die Abwärtsspirale, die seine verspielte Natur für Schatzkarten in Geheimhaltung und verschlossenen Gewölbe mit versteckten Kombinationen verwandelt hatte.
„Meinst du die Treppe zum Dachausguck?“, fragte Emily. „Die habe ich gefunden. Aber sie ist im dritten Stock.“
Roy klatschte laut, als wäre er plötzlich entzückt. „Du hast sie also nie gefunden! Die Personaltreppe.“
Emily schüttelte den Kopf. „Aber ich habe die Pläne des ganzen Hauses gesehen. Deine Flüsterkneipe war der letzte versteckte Ort hier.“
„Wenn es auf einem Plan drauf ist, ist es ja nicht verborgen!“, rief Roy aus.
„Zeig sie uns“, sagte Daniel. Er schien aufgeregt zu sein, genauso wie er es gewesen war, als die Bar entdeckt worden war.
Roy führte sie in sein Arbeitszimmer. „Hast du dich nicht gewundert, warum es einen Schornstein an dieser Wand gibt?“ Er klopfte daran und es klang hohl. „Alle anderen Schornsteine sind an Außenwänden. Dieser hier ist innen liegend.“
„Es ist mir nicht einmal in den Sinn gekommen“, sagte Emily.
„Nun, es ist hier dahinter“, sagte Roy. „Würde es dir etwas ausmachen, mir behilflich zu sein, Daniel?“
Daniel war bereitwillig. Sie entfernten, wie Emily jetzt sah, eine falsche Wand, die so tapeziert war wie der Rest des Zimmers. Und da war sie. Eine Treppe. Klar, nicht besonders schön anzusehen, aber es war ihre bloße Existenz, die sie erregte.
„Ich kann es nicht glauben“, sagte Emily und trat ein. „Hast du deshalb dieses Zimmer als dein Arbeitszimmer gewählt?“
„Natürlich“, antwortete Roy. „Die Treppe war eine Abkürzung für die Diener, um zu den Schlafräumen zu gelangen, ohne von den Leuten im Haus gesehen zu werden. Es geht einfach von hier in den Keller, wo die Diener damals geschlafen haben.“
„Und das ist der einzige Weg dahin“, sagte Emily und erkannte jetzt, warum sie die Treppe nicht gefunden hatte. Im Keller befanden sich noch Räume, die für sie noch unentdeckt waren, und das Arbeitszimmer ihres Vaters war das Zimmer, das sie unverändert gelassen hatte.
Roy nickte. „Überraschung!“
Emily lachte und schüttelte den Kopf. „So viele Geheimnisse.“
Sie gingen aus dem Arbeitszimmer und Roy ging in sein Schlafzimmer. Emily ging, um die Tür hinter sich zu schließen, aber er streckte die Hand nach ihr aus und gab ihr einen Gute-Nacht-Kuss.
Emily blieb wie betäubt stehen. Ihr Vater hatte sie seit so viele Jahren nicht mehr geküsst, nicht einmal bevor er aus ihrem Leben gegangen war.
„Gute Nacht, Papa“, sagte sie hastig.
Sie schloss die Tür und eilte in ihr Zimmer. Sobald sie sicher drinnen waren, nahm Daniel sie sofort fest in die Arme. Das war auch dringend nötig.
„Wie fühlst du dich?“, fragte er leise und schaukelte sie sanft in seinen Armen.
„Ich kann nicht glauben, dass er wirklich hier ist“, stammelte sie. „Ich denke immer noch, das ist ein Traum.“
„Worüber habt ihr geredet?“
„Über alles. Ich meine, ich weiß, dass ich immer noch alles verarbeite, aber es war befreiend. Ich habe das Gefühl, wir können jetzt all den Schmerz hinter uns lassen und von vorne beginnen.“
„Also sind das Freudentränen, die meine Schulter nass machen?“, scherzte Daniel.
Emily wich zurück und lachte über den dunklen Fleck auf Daniels Shirt. „Ups, Entschuldigung“, sagte sie. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie geweint hatte.
Daniel küsste sie sanft. „Es gibt nichts zu entschuldigen. Ich verstehe, dass das hart wird. Wenn du weinen oder lachen oder schreien musst, bin ich hier. Okay?“
Emily nickte, so dankbar, einen so wunderbaren Menschen in ihrem Leben zu haben. Und jetzt, da ihr Vater hier war, hatte sie das Gefühl, dass sich wirklich alles zusammenfügte. Endlich, nach so vielen Jahren, in denen sie ein unerfülltes Leben führte, hatte sie das Gefühl, dass sie nun endlich das verdiente Leben führen konnte.
Ihre Hochzeit war nur noch eine Woche entfernt. Und jetzt, zum ersten Mal, fühlte sie sich mit allen um sie herum, die sie liebte, wirklich bereit dafür.
Jetzt war es Zeit zu heiraten.
KAPITEL ZWEI
Am nächsten Morgen erwachte Emily früher als sonst und fühlte sich beschwingt. Sie hüpfte nach unten, um Frühstück zu machen. Sie kochte ein Festmahl aus Eiern, Toast, Speck und Pfannkuchen und summte die ganze Zeit fröhlich vor sich hin. Ein bisschen später kam auch Daniel mit Chantelle runter. Nach einer Weile schaute Emily schaute auf die Uhr und begann sich Sorgen zu machen, da ihr Vater noch nicht erschienen war.
„Warum klopfst du nicht an seine Tür?“, schlug Daniel, der die Gründe für ihre verstohlenen Blicke erkannt hatte, vor.
„Ich möchte ihn nicht stören“, antwortete Emily.
„Ich kann das machen“, sagte Chantelle und sprang von der Frühstücksbar auf.
Emily schüttelte den Kopf. „Nein, du isst. Ich werde gehen.“
Sie war sich nicht sicher, warum sie sich überhaupt Sorgen darum machte, ihren Vater zu stören. Vielleicht war es das nervende Gefühl in ihrem Hinterkopf, dass er nicht da sein würde, wenn sie klopfte, dass sich alles als Traum herausstellen würde.