Die Pension war ursprünglich ein Gästehaus gewesen, bevor es die Besitzer verlassen hatten. Roys Geschichte mit dem Haus spiegelte sich gegenteilig in ihrer wider. Er hatte gewollt, dass dieser Ort ein Zuhause für die Familie und ein Zufluchtsort für den Sommerurlaub war. Emily hatte es wieder in ein Gästehaus verwandelt, in ein Geschäft.
„Ich kann nicht glauben, dass er sie all die Jahre behalten hat“, sagte Roy überrascht und sah immer noch auf die Theke. Dann sah er zurück zu Emily. „Erinnerst du dich an den Tag, an dem ich sie ihm verkauft habe?“
Emily schüttelte stumm den Kopf.
„Du hast nachdrücklich darauf bestanden, dass ich sie nicht verkaufen sollte“, sagte er mit einem Kichern. „Du hattest eine Barbie in jede Schublade gelegt und gesagt, es wäre ein Krankenhaus für deine Puppen.“
„Ich glaube, ich erinnere mich“, antwortete Emily und fühlte sich etwas melancholisch.
„Rico war sehr nett“, fügte Roy hinzu. „Er hat dir geholfen, deine „Patienten“ an einen anderen Ort zu „transferieren“. Ich glaube, du hast den Schrank unter der Spüle gewählt.“ Auch er wurde etwas wehmütig und lenkte seine Aufmerksamkeit weg von der Rezeption und wieder hin zu den Renovierungsarbeiten. „Das ist wirklich unglaublich. Du hast einen tollen Job gemacht.“
Der stolze Klang in seiner Stimme ließ Emilys Herz erzittern. Dieser Moment war so viel mehr, als sie sich hätte erhoffen können. Es war perfekt.
„Soll ich dich rumführen?“
Roy nickte. Emily führte ihn zuerst in die Küche. Von dort hörten sie die Hunde, die in der Waschküche bellten.
„Ich weiß nicht, was ich zuerst kommentieren soll“, rief Roy und sah sich in der komplett restaurierten Küche mit den original Retro-Geräten und Dekorationen, die noch von ihm stammten, um. „Die erstaunliche Renovierung oder die Tatsache, dass du Haustiere hast!“
„Das ist Mogsy und ihr Welpe Rain“, verkündete Chantelle, öffnete die Tür der Waschküche und erlaubte den beiden, hereinzukommen.
Sie eilten zu Roy, schnüffelten an ihm und versuchten, seine Wangen zu lecken. Roy lachte, was die feinen Linien um sein Gesicht deutlicher hervortreten lies und kraulte die beiden hinter den Ohren.
„Wir lassen sie normalerweise nicht durch die Küche rennen“, erklärte Emily. „Aber da es ein besonderer Anlass ist …“
Ihre Stimme brach, als die schmerzvolle Melancholie, die sie zuvor gefühlt hatte, zurückkehrte. Mit ihrem Vater zusammen zu sein, sollte nicht „besonders“ sein. Es war von ihm zu etwas Besonderem gemacht worden, als er gegangen war.
Aus seiner kauernden Haltung sah er zu ihr auf, sein Blick war voller Bedauern.
Plötzlich verspürte Emily einen Anflug von Wut. Ein Teil ihres tief vergrabenen Schmerzes begann an die Oberfläche zu kommen.
„Lass uns ins Esszimmer gehen“, sagte sie hastig und weil sie nicht wollte, dass es hochkam.
Sie gingen in den Raum mit dem großen Eichentisch. Roy bemerkte sofort, dass der schwere Gardinenvorhang, der einst über der Tür des Ballsaals hing, nicht mehr da war.
„Du hast den Ballsaal gefunden“, sagte er.
Etwas an dem Kommentar irritierte Emily. Dies war kein Versteckspiel. Sie fühlte die Hitze in ihre Wangen kriechen.
„Gefunden. Restauriert. Und bald werde ich darin heiraten“, sagte sie, als sie den Gang mit den niedrigen Decken entlanggingen und in den riesigen Ballsaal traten.
Sie konnte die Schnippigkeit in ihrer Stimme hören und atmete tief durch, um sich zu beruhigen.
„Nun, er sieht wunderschön aus“, sagte Roy, der entweder ihre wachsende Wut nicht wahrnahm oder noch nicht bereit war, sich damit zu konfrontieren. „Ich bin überrascht, dass die Glasmalerei nach all der Zeit so gut aussieht.“
„Daniels Freund George hat sie restauriert“, erklärte Emily.
„George“, sagte Roy und hob die Augenbrauen. „Ich erinnere mich an ihn, als er so groß war.“ Er deutete mit seiner Hand auf seine Taille, um die Körpergröße eines Kindes anzuzeigen.
Dann fiel Emily ein, dass Sunset Harbour mehr die Stadt ihres Vaters war als die ihre, dass er Leute hier besser kannte als sie, dass er in den Jahren, die er hier gelebt hatte, mehr Wurzeln geschlagen hatte, als sie es für sich erhoffen konnte. Eine neue Welle von Eifersucht drang in die komplexe Mischung von Gefühlen ein, die sie bereits in Schach zu halten versuchte. Sie gab sich wirklich Mühe, einen neutralen Gesichtsausdruck zu bewahren.
Als nächstes gingen sie nach oben und Emily zeigte Roy das Hauptschlafzimmer. Das Zimmer, das einmal seins und Patricias gewesen war und dann vermutlich seins und Antonias, wenn sie ihn besucht hatte, bevor es ihres und Daniels wurde.
„Das ist fantastisch“, rief Roy aus. „Die Farben sind so frisch.“
Früher war es mehr in dunklen Farben gehalten, die karmesinroten und marineblauen Farben, mit denen sie die Gästezimmer dekoriert hatte. Das klare Weiß und das Pastellblau entsprachen mehr dem Geschmack ihrer Mutter. Als sie sich im Zimmer umsah wurde Emily zum ersten Mal bewusst, dass ihr Stil eine perfekte Mischung aus beidem war. Roys Vorliebe für Antiquitäten - in dem riesigen Bett, dem Schminktisch, dem Ottoman - und Patricias Reinheit in den hellen Farben. Emily fühlte sich, als würde sie das Zimmer mit neuen Augen sehen.
„Mein Zimmer ist nebenan“, sagte Chantelle.
Emily war dankbar für die Ablenkung. Sie führte Roy aus dem Raum und in Chantelles Zimmer, wo er die entzückenden Möbel im Tierthema bestaunte, die Emily für sie gekauft hatte. Chantelle schwebte durch den Raum und zeigte stolz ihr Bücherregal, ihren Kleiderschrank voller Kleidern, ihren Haufen Plüschtiere und die Wand mit ihren Kunstwerken.
„Chantelle, du hast ein sehr schönes Zimmer“, sagte Roy freundlich und erinnerte Emily an die sanfte Art, in der er mit Kindern umging, an die Sanftheit, mit der er mit ihr gesprochen hatte, als er noch in ihrem Leben war.
Chantelle strahlte vor Stolz.
„Du hast ihr also nicht das Zimmer gegeben, das du und Charlotte geteilt habt?“, fragte er. „Das Spielzimmer mit dem Mezzanin?“
Emily spürte einen kleinen Schmerz in ihrer Brust, als sie hörte, wie er sich auf ihr Kinderzimmer bezog. Er hatte es nach Charlottes Tod abgeschlossen und Emily gezwungen, das Zimmer zu wechseln. Mittlerweile verstand Emily, dass dies das erste Anzeichen war, dass ihr Vater Charlottes Tod nicht verarbeitet hatte und dass ihr Sterben der Auslöser für ihn gewesen war, sie zu verlassen.
„Das ist die Hochzeitssuite“, erklärte Daniel und übernahm, während Emily stumm blieb. „Das Mezzanin ist ein großes Verkaufsargument. Außerdem wollten wir Chantelle in unserer Nähe haben.“
Die Emotionen wurden zu viel für Emily. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass es möglich war, gleichzeitig so viele widersprüchliche, komplexe Dinge zu fühlen. Plötzlich ahnte sie, dass sich ihre Wut am Ende dieses Rundgangs, wenn sie sich von Angesicht zu Angesicht im Wohnzimmer gegenübersaßen, explosionsartig auf ihren Vater ergießen würde.
Plötzlich spürte sie die Hand ihres Vaters auf ihrem Arm, Halt gebend und beruhigend. Sie schaute in seine blauen Augen, sah die Trauer und das Bedauern in ihnen, vermischt mit äußerster Erleichterung. Er sagte ihr schweigend, dass es in Ordnung sei, er verstand ihre Wut. Sie musste sie nicht verstecken.
Sie schlenderten durch den Rest des Stockwerks und blickten in ein paar der Gästezimmer, so dass Roy einen Eindruck von der Einrichtung bekommen konnte. Er stoppte kurz neben der Tür zu seinem Büro. Als er das letzte Mal da