Dann erkannte Scarlet den verdrehten Rahmen eines Militärflugzeugs unter dem Schotter. Sie sog scharf die Luft ein.
“Es war ein Flugzeug,” sagte sie. “Ein Militärflugzeug ist in das Schloss gekracht.”
Sage schüttelte den Kopf, Verwirrung breitete sich auf seinem Gesicht aus.
“Es gibt keinen Grund für ein Flugzeug hier zu sein,” erwiderte er. “Das Schloss steht in der Mitte vom Nirgendwo.”
“Es sei denn, sie haben nach uns gesucht,” fiel Scarlet plötzlich ein. “Es sei denn, sie haben nach mir gesucht.”
In dem Moment rutschte ein schwerer Ziegelstein ab und Sage zuckte zusammen, als er gegen sein Bein fiel.
“Wir müssen weg von hier,” sagte Scarlet.
Es war nicht nur das beschädigte Gebäude, das ihr Sorgen machte - es waren die Unsterblichen. Sie mussten fliehen bevor jemand wieder zur Besinnung kam.
Sie drehte sich zu Sage.
“Kannst du laufen?”
Er sah sie mit müden Augen an. “Scarlet. Es ist zu spät. Ich sterbe.”
Sie biss die Zähne zusammen. “Es ist nicht zu spät.”
Er griff nach ihrer Hand und blickte ihr tief in die Augen. “Hör mir zu. Ich liebe dich. Aber du musst mich sterben lassen. Es ist vorbei.”
Scarlet wandte ihr Gesicht ab und wischte die einzelne Träne weg, die ihr über das Gesicht rollte. Als sie sich wieder zu ihm drehte, griff sie nach Sages Armen, legte ihn über ihre Schulter und zog Sage in eine stehende Position. Er schrie vor Schmerz auf und fiel gegen sie. Als sie ihn über den Schutt und durch die beißenden Rauchwolken führte, sagte sie:
“Es ist nicht vorbei, bis ich es sage.”
*
Das Schloss war im Chaos. Auch wenn das Flugzeug klein gewesen war, hatte es enormen Schaden an dem alten Gebäude angerichtet.
Scarlet hastete durch die Gänge als die Wände um sie herum anfingen einzubrechen. Sie hielt Sage fest an ihrer Seite und er stöhnte vor Schmerz. Er war so schwach und zerbrechlich, dass es Scarlet im Herzen weh tat. Alles was sie wollte war ihn in Sicherheit zu bringen.
Dann hörte sie laute Rufe hinter sich.
“Sie entkommen!”
Scarlet sank der Mut, als sie sah, dass das Verlangen nach Rache die Unsterblichen weiter antrieb, obwohl ihr Schloss zerstört war und viele ihres Clans verletzt oder sterbend am Boden lagen.
“Sage,” sagte Scarlet, “sie kommen. Wir müssen schneller gehen.”
Sage schluckte und verzog das Gesicht.
“Ich gehe so schnell ich kann.”
Scarlet versuchte ihr Tempo zu erhöhen, aber Sages Schwäche verlangsamte sie. Er musste aufhören zu laufen. Sie musste ein sicheres Versteck für ihn finden, damit sie sich wenigstens verabschieden konnten.
Sie sah über ihre Schulter wie mehrere Unsterbliche näher kamen. Dort, hinter ihnen und halb versteckt im Schatten, war Octal. Er war also nicht tot.
Als die Gruppe den Abstand zwischen ihnen weiter verkürzte, sah sie, dass Octals Gesicht zur Hälfte schwere Verbrennungen hatte. Er musste große Schmerzen haben und trotzdem hielt es ihn nicht davon ab sie und Sage verletzen zu wollen. Es machte Scarlet traurig zu denken, dass die Liebe zwischen ihr und Sage die Unsterblichen so entrüstete.
Plötzlich brachte ein mächtiges Krachen Scarlet dazu einen Satz zu machen und ein plötzlicher Schwall eiskalten Wassers durchtränkte sie. Mit einem Blick über ihre linke Schulter sah sie, dass die ganze Seite des Schlosses ins Meer gefallen war und eine riesige Welle verursacht hatte.
Sie hörte Schreie und hinter ihr fielen Unsterblichen ins Meer. Sie fielen so schnell, dass sie nicht einmal Zeit hatten um in Sicherheit zu fliegen und sobald sie auf die Wellen prallten, wurden sie von dem wütenden Wasser verschluckt.
Als die Fliesen unter ihren Füßen nachgaben, warf Scarlet sich mit dem Rücken zur Wand des Ganges und drückte Sage mit einem Arm zurück. Das schwarze Wasser wälzte sich nur wenige Meter unter ihnen. Plötzlich fühlte Scarlet sich, als würden sie an einem steilen Bergabhang entlang balancieren.
Die einzige Person die auf der anderen Seite noch stand war Octal. Scarlet wusste, dass es ihn nicht mehr als wenige Sekunden kosten würde um über den Abgrund zu fliegen. Aber stattdessen stand er da und sah zu.
Er denkt es ist hoffnungslos. Er denkt wir werden sterben.
“Schnell,” sagte sie zu Sage. “Bevor wir ins Meer fallen.”
Kaltes Meerwasser traf sie im Gesicht, als sie ihn über den schmalen Vorsprung führte. Mit jedem Schritt bröckelte mehr von dem Boden ab und fiel in die Wellen. Scarlets Herz schlug gequält. Sie betete, dass sie es aus dem Schloss und in Sicherheit schaffen würden.
“Dort,” sagte sie zu Sage. “Nur noch ein paar Schritte.”
Aber kaum hatten die Worte ihre Lippen verlassen, brachen die Fliesen unter Sages Füßen. Er hatte gerade noch Zeit hochzusehen und in ihre Augen zu blicken, bevor der Boden nachgab und er in die Dunkelheit fiel.
“Sage!” schrie Scarlet, ihre Arme ausgestreckt um nach ihm zu greifen.
Aber er war verschwunden.
Scarlet blickte auf die andere Seite des Abgrunds und sah ein Lächeln auf Octals furchtbar entstelltem Gesicht.
Ohne zu zögern sprang Scarlet von dem Vorsprung und raste auf Sages fallende Gestalt zu. Sekunden bevor er auf der Wasseroberfläche aufschlug fing sie ihn auf.
“Ich hab' dich,” flüsterte sie und drückte ihn gegen ihre Brust.
Sage war schwer. Scarlet schaffte es nur zu schweben. Sie waren wenige Zentimeter von dem tückischen Wasser entfernt. Sie wusste, dass sie nicht hochfliegen konnte, da das Octal gezeigt hätte, dass sie noch am Leben waren und dann würde er sie sofort angreifen.
Dann sah sie Höhlen rechts von sich. Es waren natürlich Höhlen, über Jahrhunderte von dem Ozean ausgehöhlt. Das Schloss musste auf ihnen errichtet sein.
Scarlet verlor keine Zeit. Sie flog mit Sage in ihren Armen in die Höhle und ließ ihn dort auf dem Boden nieder. Er fiel zurück und stöhnte auf.
“Wir sind okay,” sagte Scarlet. “Wir haben es geschafft.”
Aber sie war nass bis auf die Knochen und zitterte. Ihre Zähne klapperten während sie sprach. Als sie Sages Hand nahm, bemerkte sie, dass er ebenfalls zitterte.
“Wir haben es nicht geschafft,” sagte er schließlich. “Ich habe dir die ganze Zeit gesagt, dass ich sterben werde. Heute.”
Scarlet schüttelte den Kopf und Tränen flogen von ihren Wangen.
“Nein.”
Aber sie verstand, dass es keinen Sinn machte. Sage lag im Sterben. Es stimmte wirklich.
Sie hielt ihn in ihren Armen und ließ die Tränen ungehindert laufen. Sie liefen über ihre Wangen und ihren Hals entlang. Sie machte sich nicht die Mühe sie wegzuwischen.
Scarlet war kurz davor sich zu verabschieden, als sie einen seltsamen Schimmer bemerkte, der unter ihrem T-Shirt, direkt neben ihrem Herzen, hervorkam. Sie schüttelte den Kopf, denn das war sicherlich eine Halluzination. Aber der Schimmer wurde heller.
Sie sah runter und ihr wurde klar, dass es ihre Halskette war, die leuchtete und ein weißes Licht durch die Scharniere des Anhängers warf. Sie griff unter ihr T-Shirt und zog sie heraus. Sie war nie zuvor in der Lage gewesen