Ein weiterer Blitz des Verlangens durchfuhr sie. Dieses Mal war es noch schlimmer als zuvor. Es war nicht nur der Schmerz von ihrer Tochter getrennt zu sein, den Caitlin fühlte, es war etwas viel Schlimmeres.
Scarlet war in Todesgefahr.
“Caleb,” sagte Caitlin schnell. “Sie ist da unten und sie ist in Schwierigkeiten. Wir müssen landen. Sofort.” Die Dringlichkeit in ihrer Stimme ließen die Worte nur als ein Flüstern entweichen.
Caleb nickte und sah nach unten. Unter ihnen schäumten die schwarzen Wellen.
“Es gibt keinen Platz zum Landen,” sagte er. “Ich will keine Wasserlandung versuchen. Das ist viel zu gefährlich.”
Ohne zu zögern sagte Caitlin, “Dann müssen wir springen.”
Calebs Augen wurden groß. “Caitlin, bist du verrückt geworden?”
Aber noch als er sprach griff sie nach dem Fallschirmrucksack und schnallte ihn um.
“Nicht verrückt,” sagte sie. “Nur eine Mutter, dessen Tochter sie braucht.”
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, durchfuhr sie eine weitere Welle des Verlangens mit ihrer Tochter zusammen zu sein. Sie konnte in der Ferne einen Umriss erkennen und dachte, dass es vielleicht ein Gebäude war.
Regentropfen hatten angefangen zu fallen, zogen Linien über das Glas und reflektierten das helle Mondlicht und Calebs Griff um das Steuer wurde fester.
“Du willst, dass ich das Flugzeug aufgebe,” sagte er ruhig, eher eine Feststellung als eine Frage.
Caitlin klickte ihren Fallschirm fest. “Ja.”
Sie hielt Caleb einen zweiten Rucksack hin. Er sah ihn mit einem Ausdruck schierer Ungläubigkeit an.
“Es gibt keinen Platz um das Flugzeug zu landen,” fügte Caitlin bestimmt hinzu. “Das hast du selbst gesagt.”
“Und wenn wir ertrinken?” sagte Caleb. “Wenn die Wellen zu stark sind? Das Wasser zu kalt? Wie können wir Scarlet helfen, wenn wir tot sind?”
“Du musst mir vertrauen,” sagte Caitlin.
Caleb holte tief Luft. “Wie sicher bist du, dass Scarlet in der Nähe ist?”
Caitlin sah Caleb an, als eine weitere Welle des Verlangens sie durchströmte. “Ich bin mir sicher.”
Caleb sog die Luft durch seine Zähne ein und schüttelte den Kopf.
“Ich kann nicht glauben, dass ich das mache,” sagte er.
Dann befreite er sich von den Schultergurten des Pilotensitzes und legte den Fallschirmrucksack an. Sobald er fertig war sah er zu Caitlin hinüber.
“Das wird kein Spaß,” sagte er. “Und vielleicht wird es nicht gut enden.”
Sie streckte sich nach ihm aus und drückte seine Hand. “Ich weiß.”
Caleb nickte, aber Caitlin konnte die Angst auf seinem Gesicht und die Sorge in seinem Blick sehen.
Und dann schlug er seine Hand gegen den Abwurfknopf.
Sofort umgab sie ein Luftrausch. Caitlin fühlte, wie sich ihre Haare in dem eisigen Wind zerzausten und sie selbst so schnell hochgerissen wurde, dass es ihr der Magen in die Kniekehlen rutschten ließ.
Und dann fielen sie.
KAPITEL DREI
Vivian schreckte auf und fand sich auf einer Sonnenliege in ihrem Hintergarten. Sie Sonne war schon lange untergegangen und das Mondlicht glitzerte auf der Oberfläche des Pools. Die Fenster der Villa ihrer Familie warfen einen warmen orangen Schein über den perfekt manikürten Rasen.
Vivian setzte sich auf und wurde von einem heftigen Schmerz durchfahren. Er schien aus jeder ihrer Poren zu sickern, als stände jedes ihrer Nervenenden in Flammen. Ihr Hals war trocken, ihr Kopf pochte und hinter ihren Augen pulsierte ein stechender Schmerz.
Vivian hielt sich an der Seite der Liege fest als sie Übelkeit überkam.
Was passiert mit mir?
Erinnerungen kamen zurück, an Zähne, die sich unter unsäglichen Schmerzen in ihren Hals bohrten, an das Geräusch von etwas Groteskem, das in ihr Ohr atmete, an den Geruch von Blut, der ihre Nase füllte.
Vivian klammerte sich noch stärker an die Liege, als sie von den erschreckenden Erinnerungen überrannt wurde. Ihr Herz schlug schneller und ihr Magen verkrampfte sich, als plötzlich mit beißender Klarheit die Erinnerung an den Moment zurückkam, in dem Kyle sie in einen Vampir verwandelt hatte. Unter ihrem Griff zerbrach der Liegestuhl.
Vivian sprang alarmiert von ihrer Kraft auf. Sobald sie stand verflüchtigte sich der Schmerz sofort. Sie fühlte sich verändert, fast, als würde sie sich in einem neuen Körper befinden. Eine Kraft, die sie nie zuvor gespürt hatte, floss durch ihre Adern. Als Cheerleader war sie stark und athletisch - aber was sie jetzt fühlte ging über die normale physische Fitness hinaus. Sie war mehr als stark. Sie fühlte sich unbesiegbar.
Es war nicht nur Kraft. Etwas anderes schwoll in ihrem Inneren an. Ärger. Wut. Das Verlangen Schmerz zuzufügen. Das Verlangen nach Rache.
Sie wollte Kyle für das, was er ihr angetan hatte, leiden lassen. Sie wollte, dass er in gleicher Weise wie sie litt.
Sie hatte gerade angefangen in Richtung Villa zu gehen, entschlossen ihn zu finden, als die Terassentüren aufflogen. Sie hielt im Schritt inne, als ihre Mutter, mit ihren pinken, flauschigen Pompon-Schühchen, seidenem Bademantel und Prada Sonnenbrille hinausblickte. Es war so typisch für ihre Mutter selbst im Dunkeln eine Sonnenbrille zu tragen. Ihr Haar war aufgerollt, ein Zeichen dafür, dass sie sich fertig machte um auszugehen, wahrscheinlich zu einer ihrer dummen Gesellschaftsveranstaltungen.
Beim Anblick ihrer Mutter schwappte Vivians neugefundene Wut über den Rand. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten.
“Was machst du hier draußen?” rief ihre Mutter in der hohen, kritisierenden Stimme, die Vivians Nerven immer zum Zerreißen spannte. “Du sollst dich doch für die Sanderson Party fertigmachen!” Sie hielt inne als Vivian ins Licht trat. “Mein Gott, du siehst ja aus wie der Tod! Komm schnell rein, damit ich dir die Haare machen kann.”
Vivians langes, blondes Haar war einmal ihr ganzer Stolz gewesen - die Quelle der Eifersucht unter den anderen Mitschülern und machtvoller Anzugspunkt für die heißen Jungs - aber jetzt könnte es Vivian nicht gleichgültiger sein wie sie aussah. Alles woran sie denken konnte waren die neuen Sinnesempfindungen die durch ihren Körper jagten, den nagenden Hunger in ihrem Bauch und das Verlangen zu Töten, das durch ihre Venen floss.
“Komm schon!” schnappte ihre Mutter und brachte dadurch die Lockenwickler auf ihrem Kopf zum zittern. “Was stehst du da so 'rum?”
Vivian fühlte, wie ein Lächeln ihre Mundwinkel hochzog. Sie machte einen weiteren, langsamen Schritt auf ihre Mutter zu. Als sie sprach, war ihre Stimme kalt und emotionslos.
“Ich gehe nicht zu der Sanderson Party.”
Ihre Mutter starrte zurück, ihr Blick voller Hass.
“Du gehst nicht?” kreischte sie. “Das ist keine Option, junge Dame. Das ist eine der wichtigsten Veranstaltungen in diesem Jahr. Wenn du nicht gehst werden die Gerüchte anfangen zu fliegen. Jetzt beeil' dich, wir haben nur noch eine Stunde bis der Wagen kommt. Und schau dir deine Nägel an! Du siehst aus als wärst du durch den Dreck gekrochen!”
Ihr Gesicht zeigte Ungläubigkeit und Scham.
Vivians Wut nahm nur noch zu. Sie dachte daran, wie ihre Mutter sie ihr ganzes Leben lang behandelt hatte, wie sie ihre Veranstaltungen immer vorgezogen hatte und sich nur insoweit um Vivian kümmerte, wie sie in das perfekte Bild passte, das sie der Welt zeigen wollte. Sie hasste die Frau mehr als sie sagen konnte.