Er blickte zu der Verteidigungsanlage des Schlosses, als er und seine Leute sich ihr näherten. Sie war stark, stark genug, um gegen die gesamte Welt zu bestehen. Wenn nicht jemand seinen Leuten Einlass gewährt hätte, dann hätte die Verteidigung tatsächlich seine Armee verzweifeln lassen, was unausweichlich zu Konflikten unter seinen Männern geführt hätte.
Er schnipste mit den Fingern nach einem Diener. „Ich will, dass jeder Tunnel da unten zugemacht wird. Mir ist es egal, wie viele Sklaven dabei draufgehen. Wenn ihr damit fertig seid, kümmert euch um die Tunnel unter der Stadt. Ich habe keine Lust auf ein Mäuselabyrinth, in dem Leute ohne mein Wissen umherschleichen können.“
„Ja, Erster Stein.“
Er lief weiter ins Schloss. Dort wuselten bereits Diener in den Farben von Felldust umher. Doch andere schienen seine Nachricht noch nicht erhalten zu haben. Drei seiner Männer rissen an den Tapeten, brachen Steine aus den Augen von Statuen und stopften sich die Taschen voll.
Irrien trat zu ihnen, und er sah die Ehrerbietung, die er seinen Männern einzuflößen suchte, in ihren Augen.
„Was macht ihr da?“ fragte er.
„Wir treiben die Plünderung der Stadt weiter voran, Erster Stein“, antwortete einer. Er war jünger als die anderen zwei. Irrien vermutete, dass er sich erst kürzlich den Truppen angeschlossen hatte, aus Abenteuerlust. So wie so viele andere.
„Und hat euer Hauptmann euch gesagt, dass ihr mit den Raubzügen im Schloss fortfahren sollt?“ fragte Irrien. „Seid ihr hierher beordert worden?“
Ihre Gesichter verrieten ihm alles, was er wissen musste. Er hatte seinen Männern befohlen, die Plünderung der Stadt systematisch anzugehen, aber das hier widersprach dieser Logik. Er erwartete von seinen Kriegern Disziplin und was diese Männer hier an den Tag legten, war keine Disziplin.
„Ihr dachtet wohl, ihr könntet euch einfach alles, was ihr wollt, unter den Nagel reißen“, sagte Irrien.
„So läuft das eben in Felldust!“ protestierte einer der Männer.
„Ja“, stimmte Irrien zu. „Die Starken bedienen sich bei den Schwachen. Deshalb habe ich dieses Schloss eingenommen. Gerade versucht ihr, mich zu bestehlen. Glaubt ihr etwa ich sei schwach?“
Er war nicht länger im Besitz seines großen Schwerts – und selbst wenn er es gehabt hätte – bereitete seine Schulter ihm immer noch zu große Schmerzen, als dass er es hätte heben können – und so zog er stattdessen ein langes Messer hervor. Sein erster Hieb durchtrennte den Kieferknochen und dann den restlichen Schädel des Jüngsten unter den dreien.
Er raste herum und stieß den zweiten gegen die Wand, noch bevor dieser nach seinen eigenen Waffen greifen konnte. Irrien parierte einen Schwerthieb des Letzten und schlitzte ihm zurückschwingend mühelos die Kehle auf. Er stieß ihn von sich, als er zu Boden ging.
Derjenige, den er davor zurückgestoßen hatte, stand nun mit erhobenen Händen da.
„Bitte, Stein Irrien. Es war ein Fehler. Wir haben nicht nachgedacht.“
Irrien trat auf ihn zu und stach ohne ein weiteres Wort zu. Immer und immer wieder ließ er sein Messer in ihn dringen. Dabei hielt er den Schwächling aufrecht, sodass er nicht zu schnell zu Boden sinken konnte. Er scherte sich nicht darum, dass seine eigene Wunde dabei wieder zu schmerzen begann. Das hier war nicht nur eine Hinrichtung, es war ein Exempel.
Schließlich ließ er den Mann zusammenbrechen. Irrien wandte sich mit ausgebreiteten Händen herausfordernd den anderen zu.
„Glaubt hier irgendjemand, dass ich so schwach bin, dass ihr einfach irgendetwas von mir fordern könnt? Glaubt hier irgendjemand, mich einfach bestehlen zu können?“
Sie blieben natürlich stumm. Irrien überließ sie ihrem Entsetzen und machte sich auf den Weg zum Thronsaal.
Seinem Thronsaal.
Wo just diesem Moment sein Preis ihn erwarten würde.
*
Stephania zuckte zusammen, als Irrien den Thronsaal betrat. Sie hasste sich dafür. Sie kniete neben demselben Thron, den sie selbst noch vor kurzer Zeit besetzt hatte. Goldene Ketten hielten sie gefangen. Sie hatte an ihnen gerüttelt, als niemand im Saal gewesen war, doch vergebens.
Irrien kam auf sie zu, und Stephania zwang sich, ihre Angst hinunterzuschlucken. Er hatte sie geschlagen, ihr Ketten angelegt und dennoch hatte sie die Wahl. Sie konnte sich brechen lassen oder die Situation zu ihrem Vorteil wenden. Selbst in ihrer Lage würde sie einen Weg finden.
Neben Irriens Thron festgekettet zu sein, hatte schließlich seine Vorzüge. Es bedeutete, dass er vorhatte, sie zu behalten. Es bedeutete, dass seine Männer sie in Ruhe lassen würden, auch wenn sie Stephanias Zofen und Diener zu ihrem eigenen Vergnügen davongeschleppt hatten. Es bedeutete, dass sie sich noch immer im Zentrum des Geschehens befand, auch wenn sie darüber keine Kontrolle mehr hatte.
Noch nicht.
Stephania beobachtete, wie Irrien sich setzte. Sie betrachtete ihn wie ein Jäger den Lebensraum seiner Beute ansieht. Es stand außer Zweifel, dass er sie begehrte, warum sonst würde er sie hierbehalten und nicht in die Sklavengräben schicken? Damit konnte Stephania etwas anfangen. Er mochte denken, dass sie ihm gehörte, doch schon bald würde er tun, was sie ihm riet.
Sie würde die Rolle der unterwürfigen Gespielin geben, und sie würde sich das zurückerobern, was sie sich so schwer erarbeitet hatte.
Sie wartete und lauschte, wie Irrien Vorkommnisse in der Stadt besprach. Das meiste davon war banal. Wie viel sie sich unter den Nagel gerissen hatten. Wie viel sie noch an sich reißen wollten. Wie viele Wachen sie brauchen würden, um die Mauern zu sichern, und wie der Nachschub an Nahrung gewährleistet werden konnte.
„Wir haben ein Angebot von einem Händler, der unsere Truppen versorgen würde“, sagte einer der Höflinge. „Ein Mann namens Grathir.“
Stephania schnaubte, woraufhin Irrien sich ihr zuwandte.
„Willst du irgendetwas dazu sagen, Sklavin?“
Sie musste sich zusammenreißen, ihm darauf keine schnippische Antwort zu geben. „Nur dass Garthir dafür bekannt ist, mit Gütern von mangelnder Qualität zu handeln. Sein früherer Geschäftspartner ist jedoch bereit, sein Geschäft zu übernehmen. Wenn Ihr ihn unterstützt, werdet ihr kriegen, was Ihr wünscht.“
Irrien starrte sie ruhig an. „Und warum erzählst du mir das?“
Stephania wusste, dass ihre Gelegenheit gekommen war, doch sie musste sie weise nutzen. „Ich will dir zeigen, dass ich von Nutzen sein kann.“
Er gab ihr keine Antwort und wandte sich erneut seinen Männern zu. „Ich werde es in Betracht ziehen. Was steht als nächstes an?“
Als nächstes ging es um die Forderungen einiger Vertreter der anderen Herrscher aus Felldust.
„Der Zweite Stein will wissen, wann Ihr vorhabt, nach Felldust zurückzukehren“, sagte einer der Vertreter. „Es gibt dringende Angelegenheiten, die die Anwesenheit aller fünf Steine erfordern.“
„Der Vierte Stein Vexa benötigt mehr Platz für ihre Flotte.“
„Der Dritte Stein Kas sendet seine Glückwünsche zum gemeinsam errungenen Sieg.“
Stephania ging die Namen der anderen Steine von Felldust durch. Cunning, Ulren, Kas, Forkbeard, Vexa, der einzige weibliche Stein, und Borion der Fatzke. Ihre Namen waren nichts im Vergleich zu Irriens und doch waren sie in der Theorie alle gleichrangig. Allein die Tatsache, dass sie nicht hier waren, gab Irrien so viel Macht.
Neben den Namen erinnerte sich Stephania auch an ihre Interessen, Schwachstellen und Ziele. Ulren wurde langsam in Irriens Schatten