Er gab ihr das Heftchen zurück, das sie mit zitternder Hand entgegennahm, bevor sie es in den Koffer steckte und zur Eingangstür ging.
Doch diese war verschlossen.
Mit der Hand auf dem Türknauf drehte sich Susan um.
Sie sah den Schlag kaum kommen. Alles, was sie sah, war eine weiße Faust, die auf ihren Mund stieß. Sofort spürte sie, wie das Blut floss, denn sie konnte es auf der Zunge schmecken, und fiel direkt zurück auf die Couch.
Als sie ihren Mund zum Schreien öffnen wollte, hatte sie das Gefühl, als ob die rechte Seite ihres Kiefers blockiert wäre. Sie versuchte, zurück auf die Füße zu kommen, doch der Mann war schon wieder über ihr und stieß ihr diesmal ein Knie in den Bauch, was ihr den Atem aus den Lungen drückte. Sie konnte nichts weiter tun, außer sich zusammenzurollen und nach Luft zu schnappen. Währenddessen bekam sie am Rande mit, dass der Mann sie hochhob und über seine Schulter warf, als ob sie eine hilflose Neandertalerin wäre, die gerade zurück in seine Höhle geschleppt wurde.
Sie versuchte erneut, sich gegen ihn zu wehren, aber sie konnte immer noch nicht richtig einatmen. Sie fühlte sich gelähmt, wie eine Ertrinkende. Sowohl ihr Gehirn als auch ihr ganzer Körper waren schlaff und willenlos. Von ihrem Gesicht aus tropfte Blut auf die Rückseite seines T-Shirts und als er sie durch das Haus trug, konnte sie sich auf nichts Anderes konzentrieren.
Irgendwann bekam sie mit, dass er sie in ein anderes Gebäude getragen hatte – in ein Haus, das auf irgendeine Weise mit dem verbunden war, in welchem sie sich noch vor wenigen Augenblicken befunden hatte. Sie wurde wie ein Sack Mehl auf den Boden geworfen, wobei sie sich den Kopf an dem zerkratzten Linoleumboden anschlug. In ihren Augen tauchten vor lauter Schmerz weiße Punkte auf, als sie endlich in der Lage war, flach zu atmen. Sie rollte sich herum, aber gerade als sie es geschafft hatte, auf die Beine zu kommen, war er wieder da.
Seine Augen waren nun verhangen, doch sie konnte genug erkennen, um zu sehen, dass er eine Tür geöffnet hatte, die sich hinter einer falschen Wandvertäfelung versteckte. Der Raum war dunkel und mit Staub sowie einer bauschigen Dämmung, die in zerrissenen Streifen von der Decke hing, ausgekleidet. Als ihr klar wurde, dass er vorhatte, sie dort hinein zu bringen, schlug ihr Herz so stark gegen die Brust, als ob es durch ihre Rippen brechen wollte.
„Hier drinnen bist du sicher“, sagte der Mann, während er sich vorbeugte und sie in den niedrigen Raum zog.
Schließlich lag sie im Dunkeln auf dem harten Holzboden. Der Geruch nach Staub und ihrem eigenen Blut, das immer noch aus ihrer gebrochenen Nase rann, erfüllte den Raum. Dieser Mann…sie wusste, wie er hieß, konnte sich im Moment aber nicht mehr daran erinnern, denn sie wurde von Blut und Schmerz erfüllt – einem stechenden, beengenden Schmerz in ihrer Brust – während sie weiterhin um ihren Atem kämpfte.
Als sie es endlich schaffte, einzuatmen, wollte sie die Luft zum Schreien verwenden. Doch stattdessen floss sie in ihre Lungen und belebte ihren Körper. In diesem kurzen Moment der körperlichen Erleichterung hörte sie, wie die Tür der kleinen Kammer irgendwo hinter ihr geschlossen wurde, dann gab es nur noch Dunkelheit.
Das letzte, was sie hörte, bevor die Welt schwarz wurde, war sein Lachen direkt vor der Tür.
„Keine Sorge“, meinte er. „Es wird bald vorbei sein.“
KAPITEL EINS
Der Regen prasselte beständig hinab, gerade laut genug, sodass Mackenzie White ihre eigenen Schritte nicht hören konnte. Das war gut, denn es bedeutete, dass sie der Mann, den sie verfolgte, ebenfalls nicht hören konnte.
Trotzdem durfte sie sich nicht auf diesen Vorteil verlassen. Es regnete nicht nur, sondern es war auch spät abends. Der Verdächtigte konnte die Dunkelheit genauso gut zu seinem Vorteil nutzen wie sie. Und die schwachen, flackernden Straßenlaternen halfen ihr auch nicht weiter.
Mit klatschnassem Haar und einem Mantel, der aufgrund der Nässe praktisch an ihrem Körper klebte, überquerte Mackenzie schnellen Schrittes eine verlassene Straße. Vor ihr hatte ihr Partner das Zielgebäude bereits erreicht. Sie konnte seinen Umriss sehen, der tief gebeugt an der Seite des alten Betongebäudes stand. Als sie sich ihm näherte, mit dem Mondlicht und einer einzigen Straßenlaterne, die einen Häuserblock entfernt stand, als einzige Lichtquelle, schloss sie ihre Hände fester um die Glock, ihrer von der Polizeiakademie gestellten Waffe.
So langsam mochte sie das Gefühl, eine Waffe in den Händen zu halten. Es war mehr als nur ein Sicherheitsgefühl, sondern sogar schon eine Art persönliche Beziehung. Wenn sie eine Waffe in den Händen hielt und wusste, dass sie mit ihr schießen würde, dann spürte sie eine enge Bindung mit ihr. So etwas hatte sie bei ihrer Arbeit als ungeschätzte Detective in Nebraska nie gespürt, es war etwas Neues, das die FBI Academy in ihr erweckt hatte.
Sie erreichte das Gebäude und bückte sich neben ihren Partner. Zumindest prasselte hier der Regen nicht mehr auf sie nieder.
Ihr Partner hieß Harry Dougan. Er war zweiundzwanzig, gut gebaut und auf subtile und fast schön respektable Weise dreist. Sie war froh zu sehen, dass er auch ein wenig unsicher wirkte.
„Konntest du schon etwas sehen?“, fragte sie.
„Nein. Aber im Wohnzimmer ist niemand. So viel kann man durch das Fenster erkennen“, erwiderte er, während er geradeaus deutete. Dort gab es nur ein einziges Fenster und dieses war zerbrochen und scharfkantig.
„Wie viele Zimmer?“, wollte sie wissen.
„Drei weiß ich sicher.“
„Lass mich voran gehen“, meinte sie, wobei sie darauf achtete, es nicht wie eine Frage klingen zu lassen. Sogar hier in Quantico mussten Frauen bestimmt handeln, um ernst genommen zu werden.
Er bedeutete ihr, voran zu gehen. Als sie an ihm vorbeihuschte, ging sie um die Ecke zur Front des Gebäudes, um die sie herumlugte, um festzustellen, dass die Luft rein war. Diese Straßen waren auf unheimliche Weise leer und alles sah wie ausgestorben aus.
Schnell bedeutete sie Harry, ihr zu folgen, was er ohne zu zögern tat. Er hielt seine eigene Glock in den Händen und richtete sie, wie sie es in ihrem Training gelernt hatten, während der Verfolgung auf den Boden. Zusammen schlichen sie sich zur Eingangstür des Gebäudes, einem verlassenen Betongebilde, das vielleicht einmal ein altes Lagerhaus gewesen war, und auch an der Tür waren deutliche Zeichen des Alters zu sehen. Es war ebenfalls offensichtlich, dass sie nicht verschlossen war, denn durch einen dunklen Schlitz konnte man einen Blick auf den silbrig erscheinenden Innenraum des Gebäudes erhaschen.
Mackenzie schaute zu Harry und zählte mit den Fingern. Drei, zwei…eins!
Sie drückte ihren Rücken fest an die Betonwand, als sich Harry noch tiefer bückte, die Tür aufdrückte und hineinsprang. Sie folgte ihm auf den Schritt, die beiden arbeiteten wie eine gut geölte Maschine zusammen. Im Inneren des Gebäudes gab es jedoch so gut wie kein Licht. Schnell zog sie ihre Taschenlampe aus dem Gürtel. Doch gerade, als sie diese einschalten wollte, hielt sie inne. Das Licht würde ihre Position verraten. Der Verdächtige würde sie schon von Weitem sehen und könnte – wieder einmal – schnell entkommen.
Deshalb steckte sie die Taschenlampe wieder ein und ging voran. Sie schlich vor Harry durch den Raum, wobei ihre Waffe auf die Tür zu ihrer Rechten gerichtet war. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie mehr Details erkennen. Der Raum war größtenteils leer. An der gegenüberliegenden Wand standen feuchte Kartons und in der hinteren Ecke des Zimmers gab es einen Sägeblock und ein paar zurückgelassene, alte Kabel. Ansonsten war der Hauptraum komplett leer.
Mackenzie ging zu der Tür zu ihrer Rechten. Eigentlich war es nur ein Durchgang, denn die Tür an sich war schon vor langer Zeit entfernt worden. Das Innere des Raumes wurde von Schatten verdeckt, doch abgesehen von einer zerbrochenen Glasflasche und etwas, das wie Rattenkot aussah, war auch dieser Raum leer.
Sie hielt inne und war dabei sich umzudrehen, doch erkannte, dass ihr Harry zu dicht folgte. Als