“Okay”, sagte sie. “Aber warum konnten wir das Treffen nicht in Ihrem Büro haben?”
„Weil das Opfer der Neffe des stellvertretenden Direktors ist. Zweiundzwanzig Jahre alt. Es sieht so aus, als wenn jemand ihn von der Brücke geworfen hat. Die einheimische Polizei in Kingsville sagt, es ist wahrscheinlich nur Selbstmord aber der Stellvertretende Direktor Wilmoth will sichergehen.“
“Hat er einen Grund anzunehmen, dass es Mord war?”, fragte sie.
„Naja, es ist schon die zweite Leiche in den letzten vier Tagen, die am Grund einer Brücke gefunden wurde. Es ist wahrscheinlich Selbstmord, wenn Sie mich fragen. Aber ich hab den Befehl vor einer Stunde bekommen. Direkt von Direktor Wilmoth. Er möchte sichergehen. Er will auch so schnell wie möglich informiert werden und er möchte, dass das unauffällig vonstatten geht. Daher die Anfrage mich hier, anstatt in meinem Büro zu treffen. Wenn irgendjemand Sie und mich in einem Meeting außerhalb der Bürozeiten gesehen hätte, dann hätten sie angenommen, dass es um Ellington ging oder dass ich Sie für einen Spezialeinsatz brauche.
„Okay … ich fahre also nach Kingsville, versuche herauszufinden, ob es ein Selbstmord oder Mord war, und erstatte dann Bericht?“
„Ja. Und wegen der kürzlichen Vorfälle mit Ellington, werden Sie alleine fahren. Was kein Thema sein sollte, weil ich sie heute Abend wieder zurückerwarte, mit den Neuigkeiten, dass es Selbstmord war.“
„Verstehe. Wann muss ich los?“
“Jetzt”, erwiderte er. “Am besten nicht aufschieben, oder?”
KAPITEL VIER
Mackenzie entdeckte, dass McGrath nicht übertrieben hatte, als er Kingsville, Virgina als Hinterwald beschrieben hatte. Es war eine kleine Stadt, die in Bezug auf ihre Identität, irgendwo zwischen Deliverance und Amityville lag. Es hatte eine unheimliche ländliche Stimmung, aber mit dem rustikalen Kleinstadtcharme, den die meisten Menschen von den kleineren Südstädten erwarteten.
Es war Nacht geworden, als sie am Tatort eintraf. Die Brücke kam langsam in Sicht, als sie ihr Auto vorsichtig eine dünne Schotterstraße hinunter lenkte. Die Straße selbst war keine staatliche Straße, dennoch war sie nicht gänzlich der Öffentlichkeit verschlossen. Als sie weniger als fünfzig Meter von der Brücke entfernt war, sah sie, dass die Kingsville Polizei eine Reihe von Sägeböcken aufgestellt hatte, um Menschen davon abzuhalten, weiter zu gehen.
Sie parkte neben den paar einheimischen Polizeiautos und stieg dann aus. Ein paar Flutlichter waren aufgestellt worden, alle schienen auf das abschüssige Ufer auf der rechten Seite der Brücke zu leuchten. Als sie sich dem Abhang näherte, trat ein jung aussehender Polizist aus einem der Autos.
„Sind Sie Agentin White?“, fragte der Mann und sein südlicher Akzent, durchfuhr sie wie ein Rasiermesser.
„Das bin ich“, antwortete sie.
“Okay. Vielleicht ist es einfacher, wenn Sie über die Brücke gehen und auf der anderen Seite des Ufers hinuntergehen. Diese Seite ist total steil.“
Dankbar für den Tipp ging Mackenzie über die Brücke. Sie nahm ihre kleine Taschenlampe und beleuchtete die Gegend, während sie die Brücke überquerte. Die Brücke war recht alt, sicherlich war sie schon vor langer Zeit für jegliche Nutzung geschlossen worden. Sie wusste, dass es viele Brücken in Virginia und West Virginia gab, die ähnlich wie diese waren. Diese Brücke hieß Miller Moon Brücke laut den Grundinformationen, die sie sich bei Google während Halts an Ampeln unterwegs besorgt hatte, und stand schon seit 1910 dort und wurde für die Öffentlichkeit im Jahr 1969 geschlossen. Und obwohl das die einzige Information war, die sie über die Lage bekommen hatte, gab ihr ihre aktuelle Ermittlung noch mehr Einzelheiten.
Es gab nicht viel Graffiti an der Brücke, aber der Abfallberg war bemerkbar. Bierflaschen, Sodadosen und leere Tüten von Chips, die an den Rand der Brücke geschmissen worden waren, drückten sich gegen den Metallrand, welche die Eisenschienen hielt. Die Brücke war nicht so lang; ca. 50 Meter, gerade lang genug, um sich über das abschüssige Ufer und den Fluss darunter zu spannen. Es fühlte sich robust unter ihren Füßen an, aber die reine Struktur davon war in gewisser Weise recht schwach. Sie war sich sehr wohl bewusst, dass sie auf Holzbrettern und Stützbalken in fast zwei sechzig Meter Höhe lief.
Sie ging zum Ende der Brücke und merkte, dass der Polizeibeamte recht gehabt hatte. Das Land war zugänglicher auf dieser Seite. Mit Hilfe der Taschenlampe fand sie einen Trampelpfad, der sich durch das hohe Gras wand. Die Böschung ging in einem neunzig Grad Winkel herunter, aber hier und da ragten Boden- und Felsvorsprünge hervor, die den Abstieg recht einfach machten.
“Warten Sie eine Minute”, sagte eine Männerstimme von unten. Mackenzie schaute nach vorne, in Richtung Glanz der Scheinwerfer und sah einen Schatten hervortreten. „Wer ist da?“, fragte der Mann.
„Mackenzie White, FBI“, sagte sie und suchte nach ihrem Ausweis.
Der Schatten wurde ein paar Sekunden später zu einer Person. Er war ein älterer Mann mit einem riesigen buschigen Bart. Er trug eine Polizeiuniform, die Marke über seiner Brust sagte, dass er der Sheriff von Kingsville war. Hinter ihm konnte sie die Figuren von vier weiteren Beamten sehen. Einer machte Fotos und bewegte sich langsam im Schatten.
„Oh, wow“, sagte er. “Das ging schnell”. Er wartete darauf, dass Mackenzie näher kam, und streckte dann seine Hand aus. Er gab ihr einen herzlichen Händedruck und sagte, „Ich bin Sheriff Tate. Nett Sie kennenzulernen.“
„Gleichfalls“, erwiderte Mackenzie, als sie das Ende der Böschung erreicht hatte und sich wieder auf ebenem Boden befand.
Sie nahm sich einen Moment Zeit, um den Tatort anzuschauen, der professionell von den Fluchtlichtern an den Seiten der Böschung beleuchtet wurde. Das Erste was Mackenzie bemerkte, war, dass der Fluss nicht wirklich mehr ein Fluss war – nicht unter der Miller Moon Brücke auf jeden Fall. Dort gab es nur etwas, was aussah wie übrig gebliebene Pfützen von abgestandenem Wasser, dass sich an die Seiten und scharfen Kanten von Felsen und großen Felsbrocken schmiegte, die das Gebiet eingenommen hatten, durch den der Fluss hätte führen sollen.
Einer der Felsbrocken unter den Trümmern war riesig und hatte leicht die Größe von zwei Autos. Auf der Spitze dieses Brockens lag eine Leiche. Der rechte Arm war sichtbar gebrochen und fast unmöglich unter die Reste des Köpers gebogen. Eine Blutspur lief den Brocken hinunter, schon fast getrocknet, aber dennoch nass genug, dass es aussah, als würde sie noch weiter laufen.
“Schlimmer Anblick, oder?”, fragte Tate und stellte sich neben sie.
„Ja. Was können Sie mir zum jetzigen Zeitpunkt mit Sicherheit sagen?
„Also das Opfer ist ein zweiundzwanzigjähriger Mann. Kenny Skinner. Soweit ich weiß, ist er mit jemand höher gestellten in Ihrem Büro verwandt.“
„Ja. Der Neffe des stellvertretenden FBI Direktors. Wie viele Männer wissen davon im Moment?“
„Nur ich und mein Vorgesetzter“, erwiderte Tate. „Wir haben bereits mit Ihren Kollegen in Washington gesprochen. Wir wissen, dass wir darüber Stillschweigen bewahren sollen.“
„Danke“, sagte Mackenzie. „Soweit ich weiß, gab es eine weitere Leiche, die hier vor ein paar Tagen entdeckt wurde?“
“Vor drei Tagen, ja”, sagte Tate. „Eine Frau namens Malory Thomas.“
„Irgendwelche Anzeichen von Fremdeinwirkung?“
„Naja, sie war nackt. Und ihre Kleidung wurde oben auf der Brücke gefunden. Aber abgesehen davon war da nichts. Man hat angenommen, dass es ein weiterer Selbstmord war.“
„Haben Sie davon viele von hier?“
„Ja“, sagte Tate mit einem nervösen Lächeln. „Das kann man so sagen. Vor drei Jahren haben