Riley sah von der Tür aus zu, wie Ryan liebevoll über das Haar seiner Tochter strich und April entspannt ihre Augen schloss. Es war ein bewegender Anblick.
Wann hat es angefangen so schief zu laufen? fragte sie sich.
Sie wünschte sich, sie könnte die Zeit zurückdrehen, an einen ganz bestimmten Punkt, an dem sie einen schrecklichen Fehler gemacht hatte, und genau das Gegenteil zu tun, damit all dies niemals geschah. Sie war sich sicher, dass Ryan etwas Ähnliches dachte.
Es war ein ironischer Gedanke, und sie wusste es. Der Mörder, den sie vorgestern geschnappt hatte, war von Uhren besessen gewesen und hatte seine Opfer so positioniert, dass sie wie die Zeiger auf einem Ziffernblatt aussahen. Und hier war sie nun, mit ihren eigenen Wunschvorstellungen über die Zeit.
Wenn ich nur Peterson von ihr hätte fernhalten können, dachte sie mit einem Schaudern.
Wie Riley, war auch April von dem sadistischen Monster eingesperrt und mit seiner Propangasfackel gefoltert worden. Das arme Mädchen hatte seitdem mit ihren eigenen Anfällen von PTBS zu kämpfen.
Aber Riley wusste, dass das Problem sehr viel weiter zurückging.
Vielleicht, wenn Ryan und ich uns nie hätten scheiden lassen, überlegte sie.
Aber wie hätte sie das verhindern sollen? Ryan war kühl und distanziert gewesen, nicht nur als Ehemann, sondern auch als Vater. Ganz abgesehen einmal von seinen Seitensprüngen. Nicht, dass sie ihm alleine die Schuld gab. Sie selbst hatte auch Fehler gemacht. Sie hatte nie das richtige Gleichgewicht zwischen ihrer Arbeit beim FBI und dem Muttersein gefunden. Und sie hatte die Warnzeichen gesehen, die ihr sagten, dass April auf Schwierigkeiten zusteuerte.
Ihre Traurigkeit nahm zu. Nein, ihr fiel nicht ein besonderer Moment ein, an dem sie alles hätte ändern können. Ihr Leben war so voller Fehler und verpasster Gelegenheiten. Außerdem wusste sie, dass sie die Zeit nicht zurückdrehen konnte. Es hatte keinen Sinn, sich das Unmögliche zu wünschen.
Ihr Telefon klingelte und sie trat auf den Flur. Ihr Herz schlug schneller, als sie sah, dass der Anruf von Garrett Holbrook kam, dem FBI Agenten, der nach Jilly suchte.
"Garrett!" sagte sie, als sie abnahm. "Wie sieht es aus?"
Garrett antwortete in seiner typischen monotonen Stimme.
"Ich habe gute Neuigkeiten."
Riley merkte sofort, wie ihr angespannter Atem ruhiger wurde.
"Die Polizei hat sie eingesammelt", sagte Garrett. "Sie war die ganze Nacht auf der Straße, ohne Geld und ohne einen Ort, an den sie gehen konnte. Sie wurde beim Klauen in einem Supermarkt erwischt. Ich bin gerade mit ihr auf dem Polizeirevier. Ich werde die Kaution stellen, aber …"
Garrett hielt inne. Riley gefiel der Klang dieses "aber" ganz und gar nicht.
"Vielleicht sollte ich euch reden lassen", sagte er.
Einige Sekunden später hörte Riley den vertrauten Klang von Jillys Stimme.
"Hey, Riley."
Als Rileys Panik langsam nachließ, wallte Ärger in ihr auf.
"Nichts mit 'hey.' Was hast du dir dabei gedacht, einfach so wegzulaufen?"
"Ich gehe nicht wieder zurück", sagte Jilly.
"Doch, das tust du."
"Bitte, zwing mich nicht dazu zurückzugehen."
Riley schwieg für einen Augenblick. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Einrichtung, in der Jilly gelebt hatte, war ein guter Ort. Riley hatte einige vom Personal kennengelernt, die sehr hilfreich gewesen waren.
Aber Riley verstand auch, wie Jilly sich fühlte. Das letzte Mal, als sie zusammen sprachen, hatte Jilly sich beschwert, dass niemand sie wollte, dass Pflegeeltern sie immer übergangen.
"Sie mögen meine Vergangenheit nicht", hatte sie gesagt.
Diese Unterhaltung hatte damit geendet, dass Jilly Riley unter Tränen gebeten hatte, sie zu adoptieren. Riley war nicht in der Lage gewesen, die tausenden Gründe zu erklären, die dagegen sprachen. Sie hoffte, dass dieses Gespräch nicht ähnlich enden würde.
Bevor Riley etwas erwidern konnte, sagte Jilly, "Dein Freund will mit dir reden."
Riley hörte wieder Garrett Holbrooks Stimme.
"Sie sagt immer wieder, dass sie nicht zurückgeht. Aber ich habe eine Idee. Eine meiner Schwestern, Bonnie, denkt darüber nach zu adoptieren. Ich bin sicher, dass sie und ihr Mann Jilly liebend gerne bei sich haben würden. Das heißt, falls Jilly–"
Er wurde von Freudenjauchzern unterbrochen, als Jilly immer wieder "Ja, ja, ja!" rief.
Riley lächelte. Das war genau das, was sie gerade brauchte.
"Das klingt nach einem guten Plan, Garrett", sagte sie. "Lass mich wissen, wie es läuft. Vielen Dank für Ihre Hilfe."
"Jederzeit", erwiderte Garrett.
Sie beendeten den Anruf. Riley ging zurück ins Zimmer und sah, dass Ryan und April in eine scheinbar ungezwungene Unterhaltung vertieft waren. Die Dinge schienen plötzlich so viel besser zu sein. Trotz all ihrer Fehler, und denen von Ryan, hatte sie April ein besseres Leben geboten, als es viele andere Kinder hatten.
Da fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter und hörte eine vertraute Stimme.
"Riley."
Sie drehte sich um und sah in Bills freundliches Gesicht. Als sie zurück in den Flur trat, konnte sie nicht verhindern, dass ihr Blick zwischen ihrem Exmann und ihrem langjährigen Partner hin und her wanderte. Selbst in seiner Sorge sah Ryan wie der erfolgreiche Anwalt aus, der er war. Sein blondgelocktes gutes Aussehen und sein poliertes Auftreten öffneten ihm alle Türe. Bill, wie ihr wieder einmal auffiel, sah eher aus, wie sie selbst. Sein dunkles Haar zeigte graue Strähnen und er war massiver und deutlich zerknitterter als Ryan. Aber Bill war kompetent in seinem Fachgebiet und er war in ihrem Leben sehr viel verlässlicher gewesen.
"Wir geht es ihr?" fragte Bill.
"Besser. Was ist mit Joel Lambert?"
Bill schüttelte den Kopf.
"Der kleine Verbrecher ist eine Nummer für sich", sagte er. "Er redet aber. Er sagt, er kennt einige Kerle, die viel Geld mit jungen Mädchen gemacht haben und er dachte, er versucht es selber mal. Kein Anzeichen von Reue, ein Soziopath bis auf die Knochen. Wie auch immer, er wird zweifellos verurteilt und bekommt ein paar Jahre im Gefängnis. Auch wenn er vermutlich einen Deal mit der Staatsanwaltschaft macht."
Riley runzelte die Stirn. Sie hasste diese Deals. Und dieser war besonders verstörend.
"Ich weiß, wie du darüber denkst", sagte Bill. "Aber ich nehme an, dass er uns alles sagen wird, was er weiß und wir werden eine Menge Bastarde ausschalten können. Das ist eine gute Sache."
Riley nickte. Es half zu wissen, dass diese schreckliche Situation auch etwas Gutes haben würde. Aber es gab noch etwas, über das sie mit Bill reden musste. Auch wenn sie sich nicht sicher war, wie sie es sagen sollte.
"Bill, wegen meiner Rückkehr zur Arbeit …"
Bill klopfte ihr auf die Schulter.
"Du musst mir nichts sagen", winkte er ab. "Du kannst eine Weile keine Fälle übernehmen. Du brauchst Zeit. Keine Sorge, das verstehe ich. Und das wird auch jeder in Quantico. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst."
Er sah auf seine Uhr.
"Es tut mir leid so schnell wieder zu gehen, aber–"
"Geh", sagte Riley. "Und danke für alles."
Sie umarmte Bill und er ging. Riley stand im Flur und dachte über die Zukunft nach.
"Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst", hatte Bill gesagt.
Das