d) Ein Beispiel für künstlerischen Enthusiasmus in der Großstadt: Le Peintre de la vie moderne
In der Exposition universelle (1855) war Eugène Delacroix als der Maler gewürdigt worden, der Baudelaires Vorstellungen von Kunst verwirklichte, weil seine Bilder zu historischen, religiösen und literarischen Themen die „beaux jours de l’esprit“ spiegelten und den „surnaturalisme“ offenbarten1. Die Darstellung der Großstadt und des modernen Lebens sah Baudelaire wenige Jahre später bei dem Graphiker und Maler Constantin Guys verwirklicht.
Seit 1859 arbeitete er an einem Essay über Constantin Guys, ausweislich seiner Korrespondenz besonders intensiv im Spätsommer und Herbst 18612, als das Prosagedicht Les Foules entstand, weshalb es zahlreiche Übereinstimmungen zwischen beiden Texten gibt, die sich gegenseitig erhellen. Der Essay, den er im Laufe von fast vier Jahren erfolglos verschiedenen Zeitungen anbot und wiederholt umschrieb, sollte nach seinen Plänen auch „peintres de mœurs“ des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts behandeln. Während der Umarbeitungen beschränkte er sich jedoch bald auf Guys, und als endlich Ende November/Anfang Dezember 1863 die definitive Fassung im Figaro erschien, wo man ein „manuscrit ayant trait surtout aux mœurs parisiennes“ gewünscht hatte3, trug sie den Titel Le Peintre de la vie moderne4. In ihr weist Baudelaire im Rahmen seiner Theorie von der „modernité“ des Schönen am Beispiel von Guys nach, dass es einen modernen künstlerischen Enthusiasmus in der Großstadt gibt.
Nach einer grundsätzlichen Einleitung mit seinen jüngsten Überlegungen zum „beau éternel“ und zur „modernité“ erörtert er zunächst die für die Genreskizze („croquis de mœurs“) erforderlichen schnellen Techniken und geht dann zur Charakterisierung des dazugehörigen Künstlertyps über. Dieser „peintre de mœurs“ ist nach seiner Überzeugung ein „génie d’une nature mixte“ mit einem großen Anteil an literarischem Verstand („une bonne partie d’esprit littéraire“), der sich manchmal als Dichter („poète“) erweist, öfter aber dem Romancier oder Moralisten nahesteht, weil er ein „observateur, flâneur, philosophe“ ist, oder wie immer man ihn nennen wolle. Unter der Kapitelüberschrift „L’artiste, homme du monde, homme des foules et enfant“ folgt sodann das Idealporträt des Künstlers Guys5.
M.G., wie Baudelaire ihn auf eigenen Wunsch nennt, ist kein ausschließlich auf sein Metier ausgerichteter Künstler, sondern ein „homme du monde“, ein Vielgereister, der an allem interessiert ist, was auf der Welt geschieht, ein wahrer „citoyen spirituel de l’univers“6. Seine Kunst nimmt ihren Ausgang von der Wissbegier und der Neugier auf den Menschen und die Welt: „la curiosité peut être considérée comme le point de départ de son génie“7. Um seinen Wissensdurst und seine Aufgeschlossenheit zu illustrieren, greift Baudelaire zu Poes Erzählung The Man of the Crowd, deren Erzähler und Protagonist nach schwerer Krankheit mit neu erwachtem Interesse das Leben um sich herum wahrnimmt und schließlich einem Unbekannten folgt, dessen Gesicht ihn fasziniert hat:
Derrière la vitre d’un café, un convalescent, contemplant la foule avec jouissance, se mêle, par la pensée, à toutes les pensées qui s’agitent autour de lui. Revenu récemment des ombres de la mort, il aspire avec délices tous les germes et tous les effluves de la vie; comme il a été sur le point de tout oublier, il se souvient et veut avec ardeur se souvenir de tout. Finalement, il se précipite à travers cette foule à la recherche d’un inconnu dont la physionomie entrevue l’a, en un clin d’œil, fasciné. La curiosité est devenue une passion fatale, irrésistible.8
Die Rekonvaleszenz der Poeschen Figur wird zum Schlüsselbegriff, mit dessen Hilfe Baudelaire den Geisteszustand M.G.s und des künstlerischen Genies überhaupt darlegt.
Rekonvaleszenz sei wie eine Rückkehr zur Kindheit, erklärt er, denn jemand, der, von schwerer Krankheit genesen, sich wieder dem Leben und der Welt zuwende, empfinde wie ein Kind:
[…] la convalescence est comme un retour vers l’enfance. Le convalescent jouit au plus haut degré, comme l’enfant, de la faculté de s’intéresser vivement aux choses, même les plus triviales en apparence. (S. 690)
Für das Kind ist alles neu, weshalb es ständig „trunken“ ist und sich von Natur aus in einem ekstatischen Zustand befindet:
L’enfant voit tout en nouveauté; il est toujours ivre. […] C’est à cette curiosité profonde et joyeuse qu’il faut attribuer l’œil fixe et animalement extatique des enfants devant le nouveau, quel qu’il soit, visage ou paysage, lumière, dorure, couleurs, étoffes chatoyantes, enchantements de la beauté embellie par la toilette. (Ebd.)
Das Neue und Andere bewirkt nämlich ein intensives Erleben und eine geschärfte Wahrnehmung ganz wie im „état exceptionnel“. Der Freude, mit der das Kind Formen und Farben aufnimmt, gleicht aber die Inspiration des Künstlers9, ja, die Kreativität des künstlerischen Genies ist für Baudelaire die willentlich wiedergefundene Erlebnisfähigkeit der Kindheit:
[…] le génie n’est que l’enfance retrouvée à volonté, l’enfance douée maintenant, pour s’exprimer, d’organes virils et de l’esprit analytique qui lui permet d’ordonner la somme de matériaux involontairement ramassée. (Ebd.)
Beim Künstler gesellt sich zur Intensität des Erlebens eine entwickelte und starke Vernunft und eine ebensolche Ausdrucksfähigkeit, die ihm eine geordnete Wiedergabe seiner Wahrnehmungen ermöglichen. Constantin Guys ist für Baudelaire in diesem Sinne ein beständiger „Rekonvaleszent“ und zugleich ein „homme-enfant“, der die Fähigkeit besitzt, das Leben jederzeit in seiner ganzen Ursprünglichkeit in sich aufzunehmen:
Je vous priais tout à l’heure de considérer M.G. comme un éternel convalescent; pour compléter votre conception, prenez-le aussi pour un homme-enfant, pour un homme possédant à chaque minute le génie de l’enfance, c’est-à-dire un génie pour lequel aucun aspect de la vie n’est émoussé. (S. 691)
Nach dieser viel zitierten Definition Baudelaires ist das Genie von Natur aus im höchsten Maße interessiert und offen für die Welt in allen ihren Erscheinungsformen und bezieht aus der besonderen Intensität dieses Erlebens seine künstlerische Kreativität. Seine Empfänglichkeit für Sinneseindrücke aller Art ist der des Rekonvaleszenten und des Kindes vergleichbar, die die Dinge mit wieder erwachter Lebensfreude und mit Neugier betrachten und aus diesem intensiven Erleben ein besonderes Glücksempfinden ziehen. Dieser Feststellung liegt die Erfahrung zugrunde, dass unsere Wahrnehmung durch Gewöhnung an Intensität verliert. Das künstlerische Genie ist aufgrund seiner Anlage davon ausgenommen und es ist imstande, die ursprüngliche Lebendigkeit der Wahrnehmung auch beim Rezipienten wiederherzustellen. Diese ungewöhnliche Begriffsbestimmung, die sich perfekt in Baudelaires ästhetisches System des künstlerischen „état exceptionnel“ einfügt, hat ihren Ursprung in der empiristischen englischen Literaturkritik, für die insbesondere Coleridge steht.
Coleridge hat wiederholt die Fähigkeit des Dichters hervorgehoben, mit seiner Phantasie den alltäglichen, farb- und glanzlosen Anblick der Welt zu überwinden und alles in einem neuen Licht erstrahlen zu lassen. In seiner Biographia literaria beschreibt er, auf welche Weise ihn in seiner Jugend ein Gedichtvortrag von Wordsworth beeindruckt habe:
It was the union of deep feeling with profound thougt; the fine balance of truth in observing with the imaginative faculty in modifying the objects observed; and above all the original gift of spreading the tone, the atmosphere and with it the depth and height of the ideal world around forms, incidents, and situations, of which, for the common view, custom had bedimmed all the lustre, had dried up the sparkle and the dew drops.10
Und weiter schildert er das geniale poetische Vorgehen von Wordsworth:
„To find no contradiction in the union of old and new; to contemplate the Ancient of days and all