Der nächste Abschnitt des Gedichts stellt den mit dieser Kunst Begabten vor, den „poète actif et fécond“ bzw. – in der Erstfassung – den „poète au cerveau actif et fécond“, für den Menschenmenge und Einsamkeit gleichwertig und austauschbar („égaux et convertibles“) seien. Begründet wird diese paradox anmutende Befähigung mit Rückgriff auf eine Äußerung des alternden Rousseau, der in den Rêveries du promeneur solitaire darüber geklagt hatte, dass er seine Einsamkeit nicht mit vertrauten Wesen teilen könne, weil seine versiegende Phantasie ihm nicht mehr gehorche:
Seul et délaissé je sentois venir le froid des premiéres glaces, et mon imagination tarissante ne peuploit plus ma solitude d’êtres formés selon mon cœur.29
Baudelaire folgert daraus, dass es auf die Phantasie ankomme und dass derjenige, der – wie Rousseau in seinen besseren Zeiten30 – imstande ist, mit einer „aktiven Phantasie“31 seine Einsamkeit zu bevölkern („peupler sa solitude“), auch inmitten einer rastlosen Menschenmenge „allein“ sein und den Vorstellungen seiner Phantasie folgen könne. Diese Einlassung nimmt den denkbaren Einwand vorweg, dichterischer Enthusiasmus in der Menschenmenge sei unmöglich, weil er – physische – Einsamkeit voraussetze32.
Seiner tätigen Phantasie verdankt der Dichter das „unvergleichliche Privileg“, im Enthusiasmus aus sich herausgehen und sich in andere Menschen hineinversetzen zu können, von dem der nächste Abschnitt handelt. Diese Fähigkeit, die eingangs genannte „Feen“-Gabe des „goût du travestissement et du masque“, ist seit jeher ein Kennzeichen des dichterischen Genies, wie man in der Encyclopédie nachlesen kann:
[…] dans la chaleur de l’enthousiasme […] il est transporté dans la situation des personnages qu’il fait agir; il a pris leur caractère: s’il éprouve dans le plus haut degré les passions héroïques, telles que la confiance d’une grande ame que le sentiment des ses forces éleve au-dessus de tout danger, telles que l’amour de la patrie porté jusqu’a l’oubli de soi-même, il produit le sublime, le moi de Médée, le qu’il mourût du vieil Horace, le je suis consul de Rome de Brutus: transporté par d’autres passions, il fait dire à Hermione, qui te l’a dit? à Osmane, j’étais aimé; à Thieste, je reconnois mon frere.33
Auch Baudelaire hat sich in einem Brief an seine Mutter auf den Wesenszug berufen und ihn seinen einzigen Stolz genannt:
Le propre des vrais poètes – pardonnez-moi cette petite bouffée d’orgueil, c’est le seul qui me soit permis – est de savoir sortir d’eux-mêmes, et comprendre une tout autre nature.34
Weniger philosophische und künstlerische Naturen erfahren dagegen im Rausch nur das eigene „tempérament physique et moral“, wie er zu betonen nicht müde geworden ist35. Daher bringt auch die Steigerung des Lebens- und Hochgefühls während eines festlichen Schauspiels oder in einer Menschenmenge, die auf der elementaren Wahrnehmung gleichgearteten Tuns und Erlebens beruht, keine qualitative Erweiterung des Ichs mit sich. Zu dieser ist allein der Dichter fähig, der im Enthusiasmus je nach Wunsch er selbst oder ein Anderer sein kann und für den daher die Vielfalt der vielen Einzelnen, die „multiplication du nombre“, ein „Vitalität“36 spendendes Bad ist. Das ist der tiefere Sinn der Metapher vom Bad in der Menge und der Rede von der „Kunst“ des Mengenerlebnisses.
Es wäre nun ein Irrtum, das Sich-Hineinversetzen des Dichters in Andere für einen philanthropischen oder gar sozialen Akt zu halten. Schon im Mangeur d’opium weist die Bezeichnung „dilettantisme dans la charité“ für das wiederholte, genussvolle Eintauchen des Erzählers in die ihm vertraute „foule de déshérités“ in eine andere Richtung. Im Poème du hachisch, wo Baudelaire die Deformation und Steigerung von Gefühlen und moralischen Maßstäben unter dem Einfluss der Droge beschreibt und in der vorletzten Phase des Haschischrausches eine „bienveillance singulière appliquée même aux inconnus, une espèce de philanthropie plutôt faite de pitié que d’amour“ diagnostiziert, entdeckt er darin den Ansatz zum „esprit satanique“37. Denn der Drogenberauschte sieht in diesem Zustand seine Person im Zentrum des Universums, er fühlt sich gottgleich und bezieht alles auf sich selbst:
[…] toutes ces choses ont été créées pour moi, pour moi, pour moi! Pour moi, l’humanité a travaillé, a été martyrisée, immolée, – pour servir de pâture, de pabulum à mon implacable appétit d’émotion, de connaissance et de beauté!38
Der Dichter, der denselben „implacable appétit d’émotion, de connaissance et de beauté“ besitzt, lebt den gottgleichen Zustand – den ‚En-thusiasmus‘ – in seinem Werk aus, das, wie die Fleurs du mal beweisen, satanische Züge tragen kann. Das zugegeben komplexe Verhältnis des Dichters zum (Mit)Menschen hat somit nichts mit Sozialromantik39, aber viel mit Inspiration und Ästhetik zu tun.
Die Gabe, er selbst oder ein Anderer zu sein, kann der Dichter nach seinem Belieben einsetzen, wann er will („quand il veut“) und wo er will („tout est vacant“). So wählt er aus und übergeht, was ihm nicht der Mühe wert erscheint: „si de certaines places paraissent lui être fermées, c’est qu’à ses yeux elles ne valent pas la peine d’être visitées.“ Das Wort „places“ ist dabei nicht zufällig gewählt, denn in der Großstadt finden Begegnungen mit Menschen, wie sich zeigen wird, vorzugsweise an viel besuchten „Orten“ statt. Hier meint es jedoch zunächst die Menschen, in die der Dichter sich gleich einer irrenden Seele, die einen Körper sucht, hineinversetzt: „[c]omme ces âmes errantes qui cherchent un corps“. Diese Äußerung impliziert die Aussage, dass die Empathie des Dichters mit dem menschlichen Gegenüber, sein „entrer dans le personnage de chacun“, die ihm eigentümliche Form des Enthusiasmus und der Inspiration und somit geradezu Voraussetzung für sein Schaffen ist. Daher verwundert es nicht, wenn das im Gedicht entworfene Bild des Dichters weitgehend mit der Selbstcharakteristik des Erzählers in Balzacs Facino Cane übereinstimmt, dessen Leidenschaft es ist, sich unerkannt unter die Bewohner des Faubourg zu mischen, ihre Sitten und Charaktere zu beobachten und sich in sie hineinzuversetzen, um ihr Leben zu leben:
Chez moi l’observation était déjà devenue intuitive, elle pénétrait l’âme sans négliger le corps; ou plutôt elle saisissait si bien les détails extérieurs, qu’elle allait sur-le-champ au-delà; elle me donnait la faculté de vivre de la vie de l’individu sur laquelle elle s’exerçait, en me permettant de me substituer à lui comme le derviche des Mille et Une nuits prenait le corps et l’âme des personnes sur lesquelles il prononçait certaines paroles.
[…] En entendant ces gens je pouvais épouser leur vie, je me sentais leurs guenilles sur le dos, je marchais les pieds dans leurs souliers percés; leurs désirs, leurs besoins, tout passait dans mon âme, ou mon âme passait dans la leur. C’était le rêve d’un homme éveillé. […] Quitter ses habitudes, devenir un autre que soi par l’ivresse des facultés morales, et jouer ce jeu à volonté, telle était ma distraction.40
Die gedanklichen und teils wörtlichen Parallelen in Balzacs Text41 – „épouser leur vie“, „vivre la vie d[’un autre]“, „l’ivresse des facultés morales“, „leurs désirs, leurs besoins, tout passait dans mon âme, ou mon âme passait dans la leur“, „jouer ce jeu à volonté“ – sind durchaus verblüffend. Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied. Wenn Balzac seinen Erzähler die Leidenschaft für die „observation“ mit der Bemerkung „mais n’était-ce pas encore de l’étude?“ einordnen lässt42, so meint er damit das Ziel des Epikers, wie er es versteht, und das ein anderes ist als das des lyrischen Dichters, das Baudelaire seinem „poète actif et fécond“ setzt. Denn die Lyrik betrachtet Dinge und Personen nicht unter ihrem besonderen und individuellen Aspekt, sondern in ihren grundsätzlichen und allgemeinen, ja universalen