»Ein Sittlichkeitsverbrecher!«, rief die rote Dame. »Ein Kinderschänder! Da draußen am Strand, da läuft er herum, am helllichten Tag! Hier, meine Tochter hat er belästigt, hat sich schamlos vor ihr entblößt, und wer weiß, was er ihr noch alles angetan hätte, wenn ich nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen wäre! Da, gucken Sie mal!« Sie klatschte das undefinierbare Kleidungsstück vor Lüppo Buss auf den Schreibtisch. Sandfontänen spritzten nach allen Seiten, Körnchen prickelten auf der polierten Tischplatte.
»Das sind seine Boxershorts«, erläuterte die rote Dame ihr Beutestück. »Die hat er vor meiner Tochter ausgezogen, und die Kleine musste ihm dabei zugucken. Was für ein Dreckskerl!« Die Frau rang nach Atem. »Als ob ich es geahnt hätte. Ich habe zu meinem Mann gesagt, Hermann, habe ich gesagt, ich sehe Bianca nicht, seit ein paar Minuten schon, wo ist Bianca, das macht mich ganz unruhig, habe ich gesagt. Also bin ich losgegangen und habe sie gesucht, und was soll ich sagen …«
Die rote Dame hielt erneut inne, um Luft zu holen. Eine Gelegenheit, auf die der Trupp, der sich in ihrem Schlepptau in das Polizeibüro an der Kaapdüne gedrängt hatte, nur gewartet zu haben schien. Offenbar waren sie allesamt Augenzeugen des soeben angezeigten Vorfalls geworden, und das taten sie jetzt mit gebührender Empörung und Lautstärke kund. Nur der Mann, der direkt neben der roten Dame und ihrer mitgrünen Bikinitochter stand, stimmte nicht in die Kakophonie der Entrüstung ein. Vermutlich Hermann, dachte Lüppo Buss.
Der Kommissar ließ als guter Therapeut dem aufgestauten Mitteilungsdrang der Tatzeugen erst einmal freien Lauf. Dann erhob er sich langsam aus seinem Drehstuhl, breitete die kräftigen Arme aus, blähte seinen Brustkorb auf und fixierte die Gruppe aus eisgrauen Augen. Eine Pose, die vollkommen ausreichte, um alle Anwesenden augenblicklich zum Schweigen zu bringen.
»Also gut«, sagte er leise. »Darf ich Sie alle jetzt bitten, einer nach dem anderen und ganz in Ruhe Ihre Aussage …«
Schon wieder entstand Tumult. Mist, dachte Lüppo Buss. Das hatte doch bis hierhin so gut geklappt. Wer machte denn da alles wieder zunichte? Wütend funkelte er den schmächtigen älteren Herrn an, der sich gerade durch die Reihen nach vorne drängelte. »Was wollen Sie denn jetzt?!«
»Entschuldigen Sie bitte.« Der kleine Mann schien unter den finsteren Blicken des Inselkommissars noch weiter zu schrumpfen. »Ich gehöre gar nicht zu den Herrschaften hier, wollte nur etwas abgeben, und da dachte ich, ich lege Ihnen das mal einfach auf den Schreibtisch. Hier, zwei Fundsachen.«
Der kleine Mann machte seine Ankündigung wahr. Wieder rieselte feuchter, salziger Sand über Lüppo Buss’ glänzenden Schreibtisch, und auf der Stirn des Polizeibeamten vereinigten sich zwei blonde, borstige Augenbrauenraupen zu einer einzigen. Abermals holte der Kommissar tief Luft.
Der Schrei aber kam von Margit Taudien. »Oh nein, Hilke!« Die Lehrerin griff nach den beiden Gegenständen, die der kleine Mann abgelegt hatte, zuckte jedoch davor zurück wie vor einem Skorpionpärchen und schlug stattdessen die Hände vor ihr Gesicht.
Lüppo Buss trieb die Raupen auf seiner Stirn auseinander und richtete seinen Blick abwärts. Das eine der beiden Fundstücke war ein Handy, ein relativ neues Modell, mit Fotofunktion und allerlei sonstigem Schnickschnack. Nicht billig, aber kein Grund, in Panik zu geraten.
Das andere Fundstück war eine Brille. Schmal, eckig, mit rotem Kunststoffgestell.
»Oh nein«, wiederholte Margit Taudien. »Das arme Kind. Was hat er bloß mit ihr gemacht!«
Alle Anwesenden starrten sie verständnislos an. Selbst Heiden, dessen Gedanken in den letzten Minuten ganz andere Wege gegangen waren. Nur Lüppo Buss wusste genau, was die Lehrerin meinte. Und er musste zugeben, dass der Zusammenhang mehr als offenkundig war. Ein junges Mädchen verschwunden, ein Sittlichkeitsverbrecher aufgetaucht, zwei eindeutig zuzuordnende Fundstücke in der Nähe des Ortes entdeckt, wo der Täter sein Unwesen trieb.
Kalter Schweiß brach ihm aus.
Wieder öffnete er den Mund. Wieder kam er nicht zu Wort, denn erneut entstand Unruhe. Sehr heftige diesmal, denn der Mann, der sich jetzt seinen Weg von der Tür her durch das inzwischen zum Bersten vollgepfropfte Büro bahnte, war alles andere als klein und schmächtig. Vielmehr war er groß und dick, beinahe ein Koloss, spärlich bekleidet mit Badelatschen, dunklen Shorts und weißem Unterhemd, und er schien keinerlei Scheu vor dem Einsatz seiner Ellbogen zu haben.
Die rote Dame schrie auf: »Das ist er, das ist er! Der Lustmörder! Hilfe, zu Hilfe, so haltet ihn doch fest!«
Der Mann jedoch, der neben ihr stand und in dem Lüppo Buss ihren Ehemann Hermann vermutete, schüttelte nachdrücklich den Kopf und legte ihr die Hand auf die sonnenverbrannte, rosa schimmernde Schulter. Ein Schmerzensschrei stoppte ihr entsetztes Gezeter.
»Das ist er nicht«, sagte der mutmaßliche Hermann. »Ganz bestimmt nicht. Er sieht nur so ähnlich aus.«
Der große, dicke Mann hatte sich inzwischen bis zum Schreibtisch durchgetankt. Die rote Dame streifte er nur mit einem skeptischen Blick, dann wandte er sich Lüppo Buss zu. »Was ist das eigentlich für eine Insel hier?«, herrschte er ihn an. »Was ist das für ein Strand? Wissen Sie überhaupt, wie oft ich in Italien Badeurlaub gemacht habe? Und in Südfrankreich? Und nie, niemals hat mich dort jemand beklaut. Aber hier, auf Langeoog, im ach so friedlichen Ostfriesland! Da dreht man sich nur einmal kurz um, und was ist?«
Genau in diesem Augenblick platzte Lüppo Buss der Kragen. »Ja, und was ist? Was ist!?«, brüllte er los, den Kopf in den Nacken gelegt, um dem dicken Kerl in die wasserblauen Augen starren zu können. »Was glauben Sie wohl, wie gespannt ich darauf warte, dass Sie mir sagen, was hier ist! Na und, was ist nun?! Jetzt will ich es aber wissen. Und das eine sage ich Ihnen, wenn Sie mich hier wegen nichts und wieder nichts von meinen dringenden Dienstgeschäften abhalten, dann machen Sie sich bloß auf was gefasst!«
Die ganze kompakte Masse Mensch im Langeooger Polizeibüro hielt den Atem an. Selbst Leopold Heiden zeigte plötzlich wieder Interesse, entfaltete seine Arme und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, froh, die kommende Auseinandersetzung als Zuschauer in der ersten Reihe miterleben zu dürfen.
Der dicke Neuankömmling aber brüllte nicht zurück. Vielmehr sagte er in ruhigem Ton: »Sorry, das konnte ich ja nicht ahnen. Tut mir leid, ich kann warten. Geht ja um nichts Wichtiges, nur um ein paar Klamotten, die mir am Strand gestohlen worden sind. T-Shirt, Badehose und Laken, so etwas eben.«
»Eine orange Badehose?« Das war das kleine Mädchen, Bianca hieß sie wohl. »So ’ne ganz große?«
»Ja«, sagte der Mann und schaute ungläubig auf das Mädchen hinab. »Ich meine, orange war sie. Hast du etwa … ?«
»Stopp«, sagte Lüppo Buss laut, und er sagte es mit Nachdruck. Augenblicklich trat Schweigen ein. »Ab jetzt redet nur noch, wer gefragt wird, klar? Und zwar von mir. Keiner verlässt mein Büro, ehe ich nicht haarklein weiß, was hier läuft und was womit zusammenhängt. Und mit Ihnen hier fange ich an. Wer sind Sie eigentlich?«
»Ich?« Der dicke Mann klopfte seine Brustregion ab, wo aber nur Feinripp zu ertasten war, dann die Rückseite seiner kurzen Hose, und brachte ein dunkles Etui zum Vorschein. Wieder rieselte Sand auf den Schreibtisch, als er die Plastikhülle aufklappte und einen Ausweis zeigte. »Mein Name ist Stahnke. Kriminalhauptkommissar. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann … ?«
Er stutzte, weil sein Blick auf die blauweiß gestreiften Boxershorts gefallen war, die zusammengeknüllt vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. »Was ist denn das?«, murmelte er, klappte seinen Ausweis zusammen und schob die Plastikhülle unter den Bund des Kleidungsstücks, um es prüfend anzuheben. Ein dunkler Fleck, bisher von den Falten fast verborgen, wurde sichtbar.
»Schon gesehen?«, wandte sich der Dicke wieder an Lüppo Buss. »Da ist Blut dran.«
8.
»Ach Mensch, ich kann mich immer so schlecht entscheiden.« Wiebke Meyers knochiger Zeigefinger zuckte zwischen den bunten Abbildungen