Thor hoffte, dass der Pfeil in die richtige Richtung wies. Doch tief im Inneren wusste er, dass dem so war. Er konnte mit jeder Faser seines Seins spüren, dass das Relikt ihn zu seiner Mutter, zu seinem Schicksal führte.
Thor rieb sich die Augen, fest entschlossen, wach zu bleiben. Er hatte gehofft, dass sie das Land der Druiden bereits erreicht hatten, zumal es sich anfühlte, als wären sie bereits um die halbe Welt gereist. Einen Augenblick lang machte er sich Sorgen: War alles nur eine Fantasie? Was, wenn seine Mutter gar nicht existierte? Was, wenn das Land der Druiden nicht existierte. Was, wenn er dazu verdammt war, sie nie zu finden?
Er versucht, die Gedanken abzuschütteln während Mycoples unermüdlich weiterflog.
Schneller, dachte Thor.
Mycoples schnurrte und schlug fester mit ihren Flügeln; dann senkte sie den Kopf und sie tauchten durch den Nebel, auf einen Ort hinter dem Horizont zu, von dem sich Thor nicht einmal sicher war, ob er überhaupt existierte.
Ein Tag brach an, wie Thor ihn noch nicht gesehen hatte. Nicht zwei, sondern drei Sonnen kletterten am Himmel empor, eine rot, eine grün und eine purpurn.
Sie flogen über die Wolken hinweg, so dicht, dass Thor die dichte Decke, die in bunte Farben getaucht war, fast berühren konnte. Thor genoss den schönsten Sonnenaufgang, den er je gesehen hatte. Die Sonnenstrahlen brachen durch die Wolken und streichelten seine Haut und tanzten in bunten Farben über Mycoples schillernde Schuppen. Er hatte das Gefühl, der Geburt der Welt entgegen zu fliegen.
Er lenkte Mycoples in einen Sinkflug, und es fühlte sich feucht an, als sie durch die Wolkendecke flogen. Sofort nach dem Eintauchen schwirrte ihre Welt vor bunten Farben und er war wie geblendet vom Licht. Als sie die Wolken verließen, rechnete Thor damit, einen weiteren Ozean unter sich zu finden, eine weitere endlose Leere.
Doch diesmal begrüßte ihn etwas anderes:
Sein Herz machte einen Sprung als er unter sich das sah, was lange Zeit seine Träume beherrscht hatte. Dort, weit unter ihm, kam Land in Sicht. Es war eine Insel, eingehüllt in Nebel, mitten in diesem unglaublichen Ozean. Das Relikt vibrierte in seiner Hand, und als er es ansah, sah er dass der Pfeil blinkte und steil nach unten zeigte. Doch er hätte es nicht einmal sehen müssen – er wusste es auch so. Er spürte es mit jeder Faser seines Seins. Sie war hier. Seine Mutter. Das magische Land der Druiden existierte, und er hatte es gefunden.
Nach unten, liebe Freundin, dachte er.
Mycoples begab sich in den Sinkflug, und als sie näher kamen, konnte Thor immer weitere Details der Insel ausmachen. Er sah endlose blühende Felder, den Feldern in King’s Court ausgesprochen ähnlich. Er konnte es nicht fassen. Die Insel kam ihm so bekannt vor, beinahe so, als ob er nach langer Zeit nach Hause zurückgekehrt war. Er hatte eine exotischere Landschaft erwartet. Es war ihm schon fast unheimlich, wie bekannt ihm alles vorkam. Wie konnte das sein?
Die Insel wurde zu allen Seiten von einem breiten rot glitzernden Sandstrand begrenzt an dem sich die Wellen rauschend brachen. Als sie näher kamen, sah Thor etwas, das ihn überraschte. Zwei riesige Säulen erhoben sich wie ein Tor gen Himmel und verschwanden in den Wolken. Es waren die größten Säulen, die er je gesehen hatte. Eine Mauer, vielleicht sieben Meter hoch, umgab die gesamte Insel, und der einzige Fußweg hinein schien durch diese Säulen zu führen.
Da er jedoch auf Mycoples ritt, entschied Thor, dass er nicht durch die Säulen gehen musste. Er würde einfach über die Mauer hinwegfliegen und landen, wo es ihm gerade gefiel.
Thor lenkte Mycoples in Richtung der Mauer. Doch als sie sich ihr näherten, überraschte ihre Reaktion ihn. Sie schrie auf und wandte sich scharf ab, riss ihre Krallen in die Luft, bis sie fast senkrecht flogen. Es war, als wäre sie gegen einen unsichtbaren Schild geflogen, und Thor musste sich mit aller Kraft festhalten, um nicht abzustürzen. Er wollte, dass sie weiterflog, doch sie weigerte sich.
In diesem Augenblick erkannte Thor: Die Insel war umgeben von einer Art von Energieschild. Einem Schild, der so mächtig war, dass selbst Mycoples ihn nicht durchdringen konnte. Man konnte nicht über die Mauer hinwegfliegen. Er lenkte Mycoples zu den Säulen und wollte sie dazu bewegen, hindurchzufliegen, doch wieder wehrte sie sich und riss ihre Krallen hoch.
Ich kann nicht hinein.
Thor spürte Mycoples Gedanken. Er sah sie an¸ sah, wie sie mit ihre großen glitzernden Augen blinzelte, und verstand.
Sie wollte ihm begreiflich machen, dass er ohne sie ins Land der Druiden gehen musste. Thor sprang in den roten Sand und betrachtete die Säulen.
„Ich kann dich nicht einfach so hier lassen, liebe Freundin“, sagte Thor. „Es ist zu gefährlich für dich. Wenn ich alleine gehen muss, dann muss ich es tun. Doch du kehre nach Hause zurück, wo du sicher bist und warte dort auf mich.“
Mycoples schüttelte den Kopf und ließ sich nieder.
Ich werde auf dich bis ans Ende dieser Welt warten.
Thor lehnte sich vor, strich über Mycoples Kopf und küsste sie. Sie schnurrte und lehnte ihren Kopf an seine Brust.
„Ich komme wieder, liebe Freundin“, sagte Thor.
Er drehte sich um und betrachtete die Säulen. Sie waren aus Gold und glänzten in der Sonne. Er fühlte sich auf eine Weise lebendig, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte als er durch das Tor ging und endlich das Land der Druiden betrat.
KAPITEL SECHS
Gwendolyn saß in der Kutsche, die über die ländlichen Straßen ruckelte, an der Spitze der Karawane ihres Volkes, die sich langsam in Richtung Westen, fort von King’s Court bewegte. Gwendolyn war zufrieden mit der Evakuierung, die bisher geordnet verlaufen war, und zufrieden mit dem Fortschritt, den ihr Volk gemacht hatte. Sie hasste den Gedanken, ihre Stadt zu verlassen, doch sie war sich sicher, dass sie genug Abstand gewonnen hatten, sodass die Leute in Sicherheit waren.
Sicher auf dem Weg zur Westlichen Querung des Canyons, um an der Küste des Tartuvianischen Meeres an Bord der wartenden Flotte zu gehen über das Meer zu den Oberen Inseln zu segeln. Sie wusste, dass das der einzige Weg war, die Sicherheit ihres Volkes zu gewährleisten.
Die Geräusche von tausenden von Menschen in Kutschen und mindestens genauso vielen zu Fuß, von knarzenden Rädern und Hufgetrappel, erfüllten Gwendolyns Ohren. Die Klänge wirkten ermüdend auf Gwendolyn und Guwayne, der an ihrer Brust schlief, während sie ihn sanft schaukelte. Neben ihr saßen Steffen und Illepra in der Kutsche.
Gwendolyn ließ den Blick über die Straße und die Landschaft vor sich schweifen, und versuchte sich vorzustellen, an einem anderen Ort zu sein – egal wo, nur nicht hier.
Sie hatte so hart gearbeitet, das Königreich wiederaufzubauen, und nun war sie auf der Flucht. Die Invasion durch die McClouds hatte sie dazu gezwungen, ihren Plan von der Massen-Evakuierung in die Tat umzusetzen – doch in erster Linie hatten sie neben den alten Prophezeiungen und Argons Hinweisen ihre Alpträume und Vorahnungen dazu bewogen. Doch was, wenn sie sich irrte? Was, wenn es wirklich nur Träume gewesen sind? Was, wenn sich alles schnell wieder beruhigen würde? War die Evakuierung eine Überreaktion, vielleicht sogar unnötig? Sie könnte ihre Leute schließlich auch in eine andere Stadt evakuieren, nach Silesia vielleicht. Sie musste sie nicht über das Meer schicken.
Das war nur dann nötig, wenn die vollständige Zerstörung des Rings bevorstand. Und nach allem, was sie gelesen, gehört, und gespürt hatte, stand die Zerstörung unmittelbar bevor. Sie versuchte sich einzureden, dass die Evakuierung der einzige Weg war.
Während Gwendolyn den Horizont betrachtete, wünschte sie sich Thor an ihrer Seite. Sie blickte gen Himmel, und fragte sich, wo er jetzt war. Hatte er das Land der Druiden gefunden? Hatte er seine Mutter gefunden? Würde er zu ihr zurückkehren?
Und würden sie jemals heiraten?
Gwendolyn