Caitlin beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Sie hielt es fest und kuschelte es an ihre Brust. Es war ihr unmöglich, es loszulassen. Sie würde alles tun, was nötig war, um ihm zu helfen, zu heilen und zum Leben zurückzukehren. Und, wenn der Wolf das wollte, würde sie ihn als Haustier behalten.
„Wie soll ich dich nennen?“, fragte Caitlin. „Wir können nicht wieder Rose nehmen…wie wär‘s mit…Ruth?“
Das Junge leckte Caitlin plötzlich über die Wange, als würde es auf den Namen hören. Die Antwort war so deutlich, wie Caitlin es nur erwarten konnte.
Und so blieb es bei Ruth.
Caitlin, Ruth neben ihr, war gerade damit fertig geworden, das Speisezimmer zu putzen, als sie etwas Interessantes an der Wand entdeckte. Neben dem Kamin standen zwei lange silberne Schwerter. Sie nahm eines davon hoch, staubte es ab und bewunderte den Griff, der mit Juwelen besetzt war. Es war eine wunderschöne Waffe. Sie setzte den Eimer und Putzlappen ab und konnte nicht widerstehen, es auszuprobieren. Sie schwang das Schwert wild hin und her, ließ es links und rechts kreisen, wechselte die Hände, quer durch das große Zimmer. Es fühlte sich großartig an.
Sie fragte sich, wie viele Waffen Caleb hier hatte. Sie würde viel Spaß daran haben, mit ihnen zu trainieren.
„Ich sehe, du hast die Waffen gefunden“, sagte Caleb, der plötzlich zur Tür hereinkam. Caitlin setzte sofort das Schwert ab, verlegen.
„Tut mir leid, ich wollte nicht in deinen Sachen stöbern.“
Caleb lachte. „Mein Haus gehört dir?“, sagte er, während er mit zwei riesigen Rehen über seiner Schulter ins Zimmer kam. „Was immer ich besitze, kannst du gerne verwenden. Außerdem mag ich genau das an dir. Ich hätte mich auch direkt auf die Schwerter gestürzt“, sagte er mit einem Zwinkern.
Er trug die Rehe weiter durch den Raum, dann hielt er plötzlich an und drehte sich um, und schaute zweimal.
„Wow“, sagte er geschockt. „Sieht ja aus wie neu hier!“
Er stand da und starrte mit weiten Augen. Caitlin konnte sehen, wie beeindruckt er war, und sie fühlte sich glücklich. Sie blickte sich selbst im Zimmer um und stellte fest, dass es wirklich wie verwandelt war. Sie hatten nun ein prächtiges Speisezimmer, komplett mit Tafel und Stühlen, für ihr erstes Mahl.
Plötzlich winselte Ruth, und Caleb blickte hinunter und sah sie zum ersten Mal. Er schaute sogar noch überraschter drein.
Caitlin hatte plötzlich Sorge, dass es ihm etwas ausmachen würde, sie hier zu haben.
Doch sie stellte erleichtert fest, dass seine Augen sich vor Entzücken weiteten.
„Ich kann’s nicht glauben“, sagte Caleb und starrte, „diese Augen…sie sieht genau wie Rose aus.“
„Können wir sie behalten?“, fragte Caitlin zögerlich.
„Sehr gerne sogar“, antwortete er. „Ich würde dich ja umarmen, aber meine Hände sind voll.“
Caleb ging mit den Rehen weiter, durch das Zimmer und auf den Korridor hinaus. Caitlin und Ruth folgten ihm und sahen ihm zu, wie er das Wild in einem kleinen Nebenraum auf eine riesige Steinplatte legte.
„Da wir nicht wirklich kochen“, sagte er, „dachte ich, ich würde das Blut für uns ablassen. Dann können wir zum Abendessen gemeinsam trinken. Ich dachte mir, ich sollte die Sauerei hier drin anrichten, damit wir einfach vor dem Kamin sitzen und stilvoll trinken können.“
„Das hört sich gut an“, sagte Caitlin.
Ruth saß zu Calebs Fersen und blickte hoch und winselte, als er aufschnitt. Er lachte, schnitt ein kleines Stück für sie ab und streckte es ihr nach unten, um es ihr zu füttern. Sie schnappte es auf und winselte nach mehr.
Caitlin machte sich zurück in den Essbereich und begann, die Kelche sauberzuwischen, die sie dort gesehen hatte. Vor dem Kamin lag ein Haufen Felle, und sie sammelte sie zusammen und brachte sie auf die Terrasse hinaus, um sie für später auszuschütteln.
Während Caitlin darauf wartete, dass Caleb fertig wurde, blickte sie auf den Sonnenuntergang hinaus, der sich über den Horizont breitete. Sie konnte die Wellen hören, atmete die salzige Luft und hatte sich noch nie so entspannt gefühlt. Sie stand da und schloss die Augen, und sie wusste nicht einmal, wie viel Zeit vergangen war.
Als Caitlin die Augen wieder öffnete, war es fast dunkel.
„Caitlin?“, ertönte die Stimme, die nach ihr rief.
Sie beeilte sich wieder nach drinnen. Caleb war bereits im Zimmer, zwei riesige Silberkelche mit dem Wildblut in den Händen. Er war gerade dabei, Kerzen anzuzünden, überall im düsteren Zimmer verteilt. Sie gesellte sich zu ihm, die Felle wieder ablegend.
In wenigen Momenten war das Zimmer komplett erleuchtet, in allen Richtungen mit Kerzenlicht erfüllt. Die beiden setzten sich zusammen auf die Felle vor dem Kamin, und Ruth kam gelaufen und setzte sich neben sie. Die Fenster standen offen und eine Brise wehte herein, und langsam wurde es recht kühl hier drin.
Die beiden saßen nebeneinander und blickten einander in die Augen, als sie anstießen.
Der Trunk fühlte sich so gut an. Sie trank und trank, wie er, und hatte sich noch nie so lebendig gefühlt. Es war ein unglaublicher Rausch.
Auch Caleb wirkte verjüngt, seine Augen und seine Haut strahlten. Sie blickten einander an.
Er streckte die Hand aus und berührte langsam ihre Wange mit seinem Handrücken.
Caitlins Herz fing zu pochen an, und sie erkannte, dass sie nervös war. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, seit sie zuletzt mit ihm zusammen gewesen war. Sie hatte sich einen Moment wie diesen so lange ausgemalt, doch nun, da er gekommen war, fühlte es sich an, als wäre es wieder das erste Mal mit ihm. Sie konnte sehen, dass seine Hand zitterte, und erkannte, dass auch er nervös war.
Es gab noch so viele Dinge, die sie sagen wollte, so viele Fragen, die sie an ihn hatte, und sie konnte sehen, dass auch er vor Fragen fast überlief. Doch in diesem Moment traute sie sich nicht zu, zu sprechen. Und er anscheinend auch nicht.
Die beiden küssten sich leidenschaftlich. Als seine Lippen auf ihre trafen, fühlte sie sich von Gefühlen für ihn übermannt.
Sie schloss die Augen, als er näherkam und sie einander leidenschaftlich in die Arme fielen. Sie rollten sich auf die Felle, und sie spürte ihr Herz vor Emotionen wogen.
Endlich gehörte er ihr.
KAPITEL ACHT
Polly schritt rasch durch die Korridore von Versailles, mit auf dem Marmorboden hallenden Absätzen, einen endlosen Korridor mit hohen Decken, Stuckverzierungen, Marmorkaminen, gewaltigen Spiegeln und tief hängenden Kerzenleuchtern entlang. Alles glänzte.
Doch sie nahm es kaum wahr; für sie war es völlig natürlich. Nach Jahren, die sie hier gewohnt hatte, konnte sie sich kaum eine andere Form der Existenz vorstellen.
Was sie jedoch sehr wohl wahrnahm—und zwar sehr deutlich—war Sam. Ein Besucher wie er war überhaupt nicht Teil des Alltags—und war in Wahrheit äußerst ungewöhnlich. Sie hatten kaum jemals Vampire zu Besuch, besonders nicht aus einer anderen Zeit, und wenn sie welche hatten, war es Aiden üblicherweise egal. Sam musste sehr wichtig sein, erkannte sie. Er faszinierte sie. Er schien etwas jung, und er schien etwas unbeholfen zu sein.
Doch da war etwas an ihm, das sie nicht so richtig einordnen konnte. Sie fühlte sich, als hätte sie irgendwie eine besondere Verbindung zu ihm, dass sie einander schon einmal begegnet waren, oder dass er mit jemandem in Verbindung stand, der ihr wichtig war.
Was so seltsam war, denn gerade in der Nacht zuvor hatte sie einen äußerst lebhaften Traum gehabt. Über ein Vampirmädchen namens Caitlin. Sie konnte ihr Gesicht sehen, ihre Augen, ihr Haar, sogar jetzt noch. In ihrem Traum wurde ihr gesagt, dass dieses Mädchen ihre beste Freundin fürs Leben gewesen war, und