Gwen wusste, dass ihre Mutter versuchte, ihr zu helfen. Doch ihrem Versuch fehlte jegliche Form des Mitgefühls. Gwen hasste Vorträge dieser Art.
„Ich hasse dich.“, sagte Gwendolyn. „Ich habe dich schon immer gehasst.“
„Das weiß ich.“, sagte ihre Mutter. „Und ich hasse dich genauso. Doch das heißt nicht, dass wir einander nicht verstehen können. Ich will deine Liebe nicht – ich will, dass du stark bist. Diese Welt wird nicht von schwachen oder ängstlichen Menschen regiert – sie wird von jenen regiert, die in der Not den Kopf schütteln, als wäre nichts geschehen. Du kannst zusammenbrechen und sterben, wenn du das willst. Es ist genug Zeit dafür. Doch das ist langweilig. Sei stark und lebe. Lebe in vollen Zügen. Sei ein Beispiel für andere. Denn eines Tages wirst du ohnehin sterben. Daher solltest du, solange du noch atmest, auch wirklich leben.”
„Lass mich in Ruhe!”, schrie Gwendolyn. Sie konnte kein weiteres Wort mehr ertragen.
Ihre Mutter starrte mit kaltem Blick auf sie herab, und endlich, nach unbehaglichem Schweigen, drehte sie sich um und stolzierte aus dem Raum, stolz wie ein Pfau, und schlug die Türe hinter sich zu.
In der Stille begann Gwendolyn zu weinen. Sie weinte und weinte. Sie wünschte sich mehr den je, dass alles vorüber wäre.
KAPITEL SECHS
Kendrick stand auf der breiten Plattform am Rande des Canyons und ließ den Blick über die Nebelwirbel schweifen. Als er in die Weite des Canyons hinausblickte, brach sein Herz. Es zerriss ihn, seine Schwester so zu sehen, und er fühlte sich als wäre er selbst angegriffen worden. Er hatte bei ihrer Rückkehr in den Gesichtern der Silesier gesehen, dass sie in ihr mehr sahen als nur ihre Anführerin – sie sahen sie als Mitglied ihrer eigenen Familie. Auch sie waren niedergeschlagen. Als ob Andronicus ihnen allen Leid zugefügt hätte.
Kendrick fühlte sich schuldig. Er hätte wissen müssen, dass seine jüngere Schwester etwas Derartiges tun würde. Er wusste, wie stolz und mutig sie war. Er hätte ahnen müssen, dass sie versuchen würde, sich selbst zu opfern, bevor jemand auch nur die Chance hätte, sie aufzuhalten. Und er hätte einen Weg finden müssen, um sie aufzuhalten. Er kannte ihre Natur, wusste wie vertrauensselig sie war, wusste, dass sie ein gutes Herz hatte – und als Krieger hätte er die Brutalität Andronicus‘ besser einschätzen können. Er war älter und erfahrener als sie, und hatte das Gefühl, sie im Stich gelassen zu haben.
Kendrick fühlte sich auch schuldig dafür, welche Last man in dieser aussichtslosen Situation auf die Schultern einer einzigen Person, einer neu gekrönten Königin, einem sechzehnjährigen Mädchen, auf die Schultern gelegt hat. Sie hätte die Last nicht alleine tragen sollen. Solch eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen wäre selbst ihm oder seinem Vater nicht leicht gefallen. Gwendolyn hatte unter den gegebenen Umständen das Beste getan, was sie konnte, und vielleicht mehr, als jeder andere von ihnen getan hätte. Kendrick hatte selbst keine Idee, wie sie gegen Andronicus vorgehen sollten. Keiner von ihnen wusste es.
Beim Gedanken an Andronicus lief Kendricks Gesicht vor Wut rot an. Er war ein Anführer bar jeder Moral, jeder Prinzipien, jeder Menschlichkeit. Es war Kendrick klar, dass sie, wenn sie jetzt kapitulieren würden, alle das gleiche Schicksal erleiden würden. Andronicus würde jeden einzelnen von ihnen umbringen oder versklaven
Doch etwas hatte sich verändert. Etwas Neues lag in der Luft. Kendrick konnte es in den Augen der Männer sehen, und er konnte es selbst spüren. Die Silesier waren nicht länger auf das bloße Überleben aus, aufs bloße Verteidigen. Sie wollten Rache.
„SILESIER!“, bellte eine Stimme.
Die Menge verstummte und sah nach oben. In der Oberstadt am Rande des Canyons stand Andronicus umringt von seinen Henkern und starrte auf sie herab.
„Ich werde euch vor die Wahl stellen!“, donnerte er. „Gebt mir Gwendolyn und ich werde euch am Leben lassen! Wenn nicht, dann wird ab Sonnenuntergang Feuer auf euch herabregnen und nicht einer von euch wird überleben!“
Er machte eine Pause und grinste.
„Das ist ein sehr großzügiges Angebot. Überlegt nicht zu lange!“
Die Silesier wandte sich langsam ab und sahen sich an.
Srog trat vor.
„Meine lieben Silesier!“, donnerte seine Stimme über eine wachsende Menge von Kriegern hinweg. Er sah ernster aus, als Kendrick ihn je zuvor gesehen hatte. „Andronicus hat unsere geliebte und hoch geschätzte Anführerin angegriffen. Die Tochter unseres geliebten Königs MacGil, die selbst eine großartige Königin ist. Damit hat er jeden einzelnen von uns angegriffen. Er hat versucht, unsere Ehre zu beschmutzen – doch er hat nur sich selbst beschmutzt!“
„AYE!“ schrie die Menge. Die Männer waren unruhig und griffen nach ihren Schwertern. In ihren Augen loderte Feuer.
„Kendrick“, sagte Srog und wandte sich ihm zu. „Was schlägst du vor?“
Kendrick sah den Männern vor sich in die Augen, langsam, einem nach dem anderen.
„WIR GREIFEN AN!“, schrie Kendrick und in seinen Augen loderte ungezügelte Leidenschaft.
In der Menge erhob sich zustimmender Jubel. Immer mehr Männer strömten auf den Platz und sahen furchtlos aus.
„WIR WERDEN WIE MÄNNER STERBEN, NICHT WIE HUNDE!“, schrie Kendrick.
Trotziger Jubel brandete auf: „AYE!“, riefen die Männer zurück.
„WIR KÄMPFEN FÜR GWENDOLYN! FÜR ALL UNSERE MUETTER UND SCHWESTERN UND FRAUEN!“
„AYE!“
„FÜR GWENDOLYN!“, schrie Kendrick.
„FÜR GWENDOLYN!“, antwortete die Menge.
Die Energie, die über dem Platz lag, war greifbar, und es strömten immer mehr Männer herbei.
Mit einem letzten Schrei folgten sie Kendrick und Srog, als sie allen Voran die Treppen zur Oberstadt hinaufstürmten. Die Zeit war gekommen, Andronicus zu zeigen, aus welchem Holz die Silver geschnitzt waren.
KAPITEL SIEBEN
Thor stand mit Reece, O’Connor, Elden, Conven, Indra und Krohn am Fluss und alle sahen auf Convals Leichnam herab. In der Luft lag eine traurige Stimmung; Thor konnte es spüren. Das Gewicht lastete schwer auf seinen Schultern, zog in nach unten während er auf seinen toten Waffenbruder hinuntersah. Conval. Tot. Es schien unmöglich zu sein. Sie alle hatten sich zusammen auf diese Reise begeben und kannten sich schon seit langer Zeit. Er hätte sich die bisherige Reise niemals zu fünft vorstellen können. Convals Tod erinnerte ihn an seine eigene Sterblichkeit.
Der Gedanke an all die Zeiten, in denen Conval für ihn dagewesen war, ihn auf jedem Schritt seiner Reise begleitet hatte –vom ersten Tag an, als Thor in die Legion eingetreten war. Er war wie ein Bruder für ihn. Conval hatte sich für ihn eingesetzt, hatte immer ein nettes Wort für ihn gehabt; er hatte Thor von Anfang an als Freund akzeptiert, nicht wie manche der anderen. Ihn tot daliegen zu sehen – besonders in Folge einer Fehleinschätzung von ihm selbst – bereitete Thor Übelkeit. Wenn er niemals diesen drei Brüdern vertraut hätte, wäre Conval jetzt vielleicht noch am Leben.
Für Thor waren Conval und Conven immer unzertrennlich gewesen, die zwei eineiigen Zwillinge, von denen einer die Sätze des anderen vollenden konnte. Er konnte sich nicht vorstellen, welchen Schmerz Conven gerade fühlen musste. Conven sah aus, als wäre er nicht mehr die Person, die er heute Morgen noch gewesen war. Der fröhliche und unbeschwerte Conven, ausgelöscht von demselben Schwerthieb, der seinen Bruder getötet hatte.
Sie standen still am Rande des Schlachtfeldes, und die Leichen der feindlichen Krieger stapelten sich um sie herum. Sie standen da wie angewurzelt und sahen auf Conval herab, und keiner von ihnen war bereit weiterzuziehen, ohne dass er ein anständiges Begräbnis erhalten hatte. Sie hatten einige schöne Felle an den getöteten Offizieren des Empire gefunden, sie ihnen abgenommen, und Convals Körper damit eingewickelt. Sie hatten ihn auf dem Boot,