Er hob ein leeres Schneckenhaus auf, es klirrte schwach zwischen den Steinen und war ganz warm von der Sonne. Versunken betrachtete er die Windungen des Gehäuses, die eingekerbte Spirale, die launige Verjüngung des Krönchens, den leeren Schlund, in dem es perlmuttern schimmerte. Er schloß die Augen, um die Formen nur mit den tastenden Fingern zu erfühlen, das war eine alte Gewohnheit und Spielerei von ihm. Die Schnecke zwischen den losen Fingern drehend, tastete er gleitend, ohne Druck, ihre Formen liebkosend nach, beglückt vom Wunder der Formung, vom Zauber des Körperlichen. Dies, dachte er träumerisch, war einer der Nachteile der Schule und der Gelehrsamkeit: es schien eine der Tendenzen des Geistes zu sein, alles so zu sehen und darzustellen, als ob es flach wäre und nur zwei Dimensionen hätte. Irgendwie schien ihm damit ein Mangel und Unwert des ganzen Verstandeswesens bezeichnet, doch vermochte er den Gedanken nicht festzuhalten, die Schnecke entglitt seinen Fingern, er fühlte sich müde und schläfrig. Den Kopf über seine Krauter gebückt, die im Welken mehr und mehr zu duften begannen, schlief er in der Sonne ein. Über seine Schuhe liefen die Eidechsen, auf seinen Knien welkten die Pflanzen, unter dem Ahorn wartete Bless und wurde ungeduldig.
Vom fernen Walde her kam jemand gegangen, ein junges Weib in einem verblichenen blauen Rock, ein rotes Tüchlein ums schwarze Haar gebunden, mit braungebranntem Sommergesicht. Das Weib kam näher, ein Bündel in der Hand, eine kleine brennrote Steinnelke im Munde. Sie sah den Sitzenden, betrachtete ihn lange aus der Entfernung, neugierig und misstrauisch, sah, dass er schlafe, kam behutsam näher, auf braunen nackten Füßen, blieb dicht vor Goldmund stehen und sah ihn an. Ihr Misstrauen schwand, der hübsche schlafende Jüngling sah nicht gefährlich aus, er gefiel ihr wohl – wie kam der hierher auf die Brachfelder? Blumen hatte er gepflückt, sah sie mit Lächeln, sie waren schon welk.
Goldmund öffnete die Augen, aus Traumwäldern zurückkommend. Sein Kopf lag weich, er lag im Schoß einer Frau, in seine verschlafenen verwunderten Augen blickten fremde nahe Augen warm und braun. Er erschrak nicht, es war keine Gefahr, freundlich schienen die warmen braunen Sterne herab. Nun lächelte die Frau unter seinem erstaunten Blick, lächelte sehr freundlich, und langsam begann auch er zu lächeln. Auf seine lächelnden Lippen kam ihr Mund herab, sie begrüßten sich in einem sanften Kuß, bei welchem Goldmund alsbald jenes Abends im Dorfe und des kleinen Mädchens mit den Zöpfen gedenken musste. Aber der Kuss war noch nicht zu Ende. Der Frauenmund verweilte an dem seinen, spielte weiter, neckte und lockte und ergriff zuletzt seine Lippen mit Gewalt und Gier, ergriff sein Blut und weckte es auf bis ins Innerste, und im langen stummen Spiel gab die braune Frau, ihn sacht belehrend, sich dem Knaben hin, ließ ihn suchen und finden, ließ ihn erglühen und stillte die Glut. Die holde kurze Seligkeit der Liebe wölbte sich über ihm, glühte golden und brennend auf, neigte sich und erlosch. Mit geschlossenen Augen lag er, das Gesicht auf der Brust des Weibes. Es war kein Wort gesprochen worden. Das Weib hielt stille, streichelte leise sein Haar, ließ ihn langsam zu sich kommen. Endlich tat er die Augen auf.
»Du«, sagte er. »Du! Wer bist du denn?«
»Ich bin Lise«, sagte sie.
»Lise«, sprach er nach, den Namen kostend. »Lise, du bist lieb.«
Sie brachte ihren Mund nahe an sein Ohr und flüsterte hinein: »Du, ist es das erstemal gewesen? Hast du vor mir noch keine liebgehabt?«
Er schüttelte den Kopf. Dann plötzlich richtete er sich auf und blickte um sich, übers Feld und an den Himmel.
»Oh«, rief er, »die Sonne ist schon ganz tief. Ich muss zurück.« – »Wohin denn?«
»Ins Kloster, zum Pater Anselm.«
»Nach Mariabronn? Da gehörst du hin? Willst du denn nicht noch bei mir bleiben?«
»Ich möchte gerne.«
»So bleib doch!«
»Nein, es wäre unrecht. Ich muss auch noch mehr von dem Kraut sammeln.«
»Bist du denn im Kloster?«
»Ja, ich bin Schüler. Aber ich bleibe nicht mehr dort. Kann ich zu dir kommen, Lise? Wo wohnst du denn, wo bist du zu Haus?«
»Ich wohne nirgends, mein Schatz. Willst du mir aber nicht deinen Namen sagen? – So, Goldmund heißest du?
Gib mir noch einen Kuss, Goldmündchen, dann kannst du ja gehen.«
»Du wohnst nirgends? Wo schläfst du denn?«
»Wenn du willst, mit dir im Wald oder auf dem Heu. Kommst du heut nacht?«
»O ja. Wohin? Wo finde ich dich?«
»Kannst du schreien wie ein Käuzchen?«
»Ich habe es nie probiert.«
»Probiere es.«
Er versuchte es. Sie lachte und war zufrieden.
»Dann komm heut nacht aus dem Kloster und schreie wie ein Käuzchen, ich bin in der Nähe. Gefalle ich dir denn, Goldmündlein, mein Kindlein?«
»Ach, du gefällst mir sehr, Lise. Ich komme. Behüt dich Gott, jetzt muss ich weiter.«
Auf dampfendem Pferd kam Goldmund in der Dämmerung ins Kloster zurück und war froh, dass er den Pater Anselm sehr beschäftigt fand. Ein Bruder hatte sich barfuß im Bach vergnügt und sich dabei einen Scherben in den Fuß getreten.
Jetzt galt es, Narziss aufzufinden. Er fragte einen der dienenden Brüder, die im Refektorium aufwarteten. Nein, sagten sie, Narziss käme nicht zum Nachtmahl, er habe Fasttag und werde jetzt wohl schlafen, da er nachts Vigilien halte[49]. Goldmund rannte. Seines Freundes Schlafstätte während der langen Exerzitien war eine der Büßerzellen im innern Kloster. Ohne Besinnen lief er hin. Er horchte an der Tür, nichts war zu hören. Leise trat er ein. Dass es streng verboten war, kam jetzt nicht in Betracht[50].
Auf der schmalen Pritsche lag Narziss, in der Dämmerung glich er einem Toten, wie er starr mit bleichem, spitzem Gesicht auf dem Rücken lag, die Hände über der Brust gekreuzt. Er hatte aber die Augen offen und schlief nicht. Stumm blickte er Goldmund an, ohne Vorwurf, doch ohne sich zu rühren und sichtlich so in einer Versunkenheit befangen, so in einer andern Zeit und Welt gegenwärtig, dass er Mühe hatte, den Freund zu erkennen und seine Worte zu verstehen.
»Narziss! Verzeih, verzeih, Lieber, dass ich dich störe, es geschieht nicht aus Mutwillen[51]. Ich weiß, dass du jetzt eigentlich nicht mit mir sprechen darfst, aber tue es dennoch, ich bitte dich sehr darum.«
Narziss besann sich, einen Augenblick heftig blinzelnd, als gebe er sich Mühe, wach zu werden.
»Ist es notwendig?« fragte er mit erloschener Stimme.
»Ja, es ist notwendig. Ich komme, um von dir Abschied zu nehmen.«
»Dann ist es notwendig. Du sollst nicht vergebens gekommen sein. Komm, setze dich zu mir. Eine Viertelstunde ist Zeit, dann beginnt die erste Vigilie.«
Er hatte sich aufgerichtet und saß hager auf dem nackten Schlafbrett; Goldmund setzte sich neben ihn.
»Verzeih nur!« sagte er schuldbewusst. Die Zelle, die kahle Pritsche, Narzissens überwachtes und überanstrengtes Gesicht, sein halb abwesender Blick, alles zeigte ihm deutlich, wie sehr er hier störe.
»Nichts zu verzeihen. Nimm auf mich keine Rücksicht, mir fehlt nichts. Du willst Abschied nehmen, sagst du? Du gehst also fort?«
»Ich gehe noch heut. Ach, ich kann es dir nicht erzählen! Es ist plötzlich alles zur Entscheidung gekommen.«
»Ist dein Vater da oder Botschaft von ihm?«
»Nein, nichts. Das Leben selber ist zu mir gekommen. Ich gehe fort, ohne Vater, ohne Erlaubnis. Ich mache dir Schande, du, ich laufe fort.«
Narziss blickte auf seine langen weißen Finger nieder, dünn und gespenstisch kamen sie aus den weiten Kuttenärmeln hervor. Nicht