Freilich denke ich dabei weniger an das zerbrochene Bein als an die anderen Folgen jenes Unfalls, die weit freundlicher und freudiger waren. War es das Unglück selbst mit seinem Schrecken und Blick in das Dunkel, oder war es das lange Liegen und monatelange Stillsein und Besinnen, die Kur tat mir gut.
Der Beginn jener langen Liegezeit, etwa die erste Woche, ist ganz aus meiner Erinnerung verschwunden. Ich war viel bewusstlos und auch nach dem endgültigen Erwachen geschwächt und gleichgültig. Meine Mutter was gekommen und saß alle Tage getreulich im Spital an meinem Bett. Wenn ich sie ansah und ein paar Worte mit ihr sprach, schien sie freundlich und fast heiter, obwohl sie, wie ich später erfuhr, Angst um mich hatte, und zwar nicht um mein Leben, sondern um meinen Verstand. Zuweilen plauderten wir in dem stillen, hellen Krankenzimmerchen lange miteinander. Doch war unser Verhältnis nie sehr innig gewesen; ich hatte stets mehr zum Vater gehalten. Nun war sie vom Mitleid und ich von Dankbarkeit erweicht und zur Versöhnung gestimmt, wir waren aber beide allzulange an ein gegenseitiges Zuwarten und lässiges Geltenlassen gewöhnt, als dass nun die erwartete Herzlichkeit den Weg in unsere Worte hätte finden mögen. Wir sahen einander zufrieden an und ließen die Dinge unbesprochen. Sie war wieder meine Mutter, da sie mich krank liegen hatte und pflegen konnte; und ich sah sie wieder mit Knabengefühlen an und vergaß einstweilen alles andere. Später freilich kehrte das alte Verhältnis wieder und wir vermieden es, von diesem Krankenlager[18] viel zu reden, da es uns beide verlegen machte.
Allmählich begann ich meine Lage zu übersehen, und da ich die Fieberzeit überwunden hatte und ruhig schien, machte der Arzt nicht länger ein Geheimnis daraus, dass mir wohl für immer ein Andenken an diesen Sturz bleiben werde. Ich sah meine Jugend, die ich noch kaum mit einigem Bewusstsein genossen hatte, empfindlich beschnitten und verarmt und hatte alle Zeit, mich mit dieser Sache abzufinden, denn das Liegen dauerte noch wohl ein Vierteljahr.
Ich suchte denn auch eifrig in Gedanken meine Lage zu fassen und mir ein Bild der Zukunft zu machen, doch kam ich damit nicht sehr weit. Viel Denken war noch nichts für mich, ich ermüdete immer bald und sank in ein ausruhendes Hinträumen, womit mich die Natur vor Angst und Verzweiflung bewahrte und mir die Ruhe zur Heilung erzwang. Immerhin plagte mich mein Unglück manche Stunde und halbe Nacht, ohne dass ich einen nennenswerten Trost hätte erdenken können.
Da war es in einer Nacht, dass ich nach wenigen Stunden leichten Schlummers erwachte. Mir schien, ich habe etwas Gutes geträumt, und ich strebte, mich dessen wieder zu erinnern, doch vergebens. Es war mir merkwürdig wohl und frei zumute, als habe ich alles Unangenehme überwunden und hinter mir. Und wie ich lag und sann und leise Ströme der Genesung und Erlösung um mich fühlte, trat mir eine Melodie auf die Lippen, fast lautlos, die summte ich weiter und hörte nimmer auf, und unversehens schaute mich wie ein enthüllter Stern die Musik wieder an, der ich so lange fremd gewesen war, und mein Herz schlug ihren Takt, und mein ganzes Wesen blühte auf und atmete neue reine Lüfte. Es kam mir nicht zum Bewusstsein, es war nur da und durchdrang mich still, als sängen leise Chöre von fern zu mir herein.
In diesem innig frischen Gefühl schlief ich wieder ein. Am Morgen war ich froh und unbedrückt wie lange nicht mehr. Die Mutter merkte es und fragte, was mich freue. Da besann ich mich, und nach einer Weile sagte ich ihr, ich habe solange nimmer an meine Geige gedacht, die sei mir nun wieder eingefallen, und ich freue mich auf sie.
»Du wirst aber noch lange nicht wieder spielen dürfen«, sagte sie etwas ängstlich.
»Das schadet nichts, und wenn ich auch gar nimmer spielen könnte.«
Sie verstand mich nicht und ich konnte es ihr nicht erklären. Aber sie merkte, dass es mir besser gehe und dass kein Feind hinter dieser grundlosen Fröhlichkeit laure. Nach einigen Tagen fing sie vorsichtig wieder davon an.
»Du, wie ist das nun eigentlich mit deiner Musik? Wir haben fast geglaubt, sie sei dir verleidet, und der Vater hat mit deinen Lehrern gesprochen. Wir wollen dir ja nicht dreinreden, am wenigsten jetzt – aber wir meinen, wenn du dich getäuscht hättest und es lieber aufgeben möchtest, so solltest du es tun und nicht aus Trotz oder Scham dabeibleiben. Was meinst du?«
Da fiel mir die ganze Zeit der Entfremdung und Enttäuschung wieder ein. Ich versuchte der Mutter zu erzählen, wie es mir gegangen war, und sie schien es zu begreifen. Nun aber, meinte ich, sei ich meiner Sache wieder sicherer geworden, und jedenfalls wolle ich nicht davonlaufen, sondern erst zu Ende studieren. Dabei blieb es einstweilen. Im Grunde meiner Seele, wohin die Frau nicht blicken konnte, war lauter Musik. Ob es nun mit dem Geigen glückte oder nicht, ich hörte wieder die Welt wie ein gutes Kunstwerk klingen und wusste, es sei außerhalb der Musik kein Heil für mich. Erlaubte mein Zustand das Geigen nimmer, so musste ich darauf verzichten, vielleicht musste ich einen anderen Beruf suchen und etwa Kaufmann werden; aber das alles war nicht allzu wichtig, ich würde als Kaufmann oder sonst was nicht weniger Musik empfinden und in Musik leben und atmen. Ich würde wieder komponieren! Es war nicht, wie ich meiner Mutter gesagt hatte, das Geigen, worauf ich mich freute, sondern es war das Musikmachen, das Schaffen, nach dem mir die Hände zitterten. Schon fühlte ich zu manchen Zeiten wieder die lauteren Schwingungen klarer Lüfte, die gespannte Kühle der Gedanken, wie früher in meinen besten Stunden, und fühlte auch, dass daneben ein lahmes Bein und andere Übel von geringer Bedeutung seien.
Von da an war ich Sieger, und so oft auch seither meine Wünsche ins Land der Gesundheit und Jugendlust hinüberliefen, und so oft ich mit Bitterkeit und zorniger Scham mein Krüppeltum hasste und verfluchte, es ging mir dieses Leid doch nimmer so leicht über die Kraft; es war etwas da, zu trösten und zu verklären.
Ab und zu kam mein Vater hergereist, die Mutter und mich zu besuchen, und eines Tages, da es mir längst erträglich ging, nahm er sie wieder mit sich nach Hause. Die ersten Tage fühlte ich mich etwas vereinsamt, schämte mich auch, dass ich mit der Mutter zuwenig herzlich gesprochen hatte und zuwenig auf ihre Gedanken und Sorgen eingegangen war. Doch füllte mich jenes andere Gefühl zu sehr aus, als dass diese Gedanken über wohlgemeinte Spielereien und Rührungen hinausgeraten wären.
Nun kam unerwartet jemand mich zu besuchen, der sich während der Anwesenheit meiner Mutter nicht herbeigewagt hatte. Das war Liddy. Ich war sehr erstaunt, sie zu sehen. Es fiel mir im ersten Augenblick gar nicht ein, wie nah ich ihr vor kurzem gestanden und wie sehr ich in sie verliebt gewesen war. Sie kam in großer Verlegenheit, die sie schlecht verbarg, hatte sich vor meiner Mutter und sogar vor dem Gericht gefürchtet, da sie sich an meinem Unglück schuldig wusste, und begriff nur langsam, dass die Sache nicht so schlimm war und sie im Grunde gar nichts angehe. Nun atmete sie auf, doch war eine leise Enttäuschung nicht zu verkennen. Die Mädchen hatten, bei allem bösen Gewissen, doch im Grunde ihres guten Weiberherzens sich an der ganzen Geschichte, an so viel ergreifendem und rührendem Unglück, innigst erlabt. Sie brauchte sogar mehrmals das Wort »tragisch«, worüber ich kaum das Lachen verhalten konnte. Überhaupt war sie nicht darauf gefasst gewesen, mich so munter und so wenig in Respekt vor meinem Unglück zu finden[19]. Sie hatte im Sinn gehabt, mich um Verzeihung zu bitten, deren Gewährung mir als Verliebtem eine gewaltige Genugtuung schaffen müsse, und sich auf Grund dieser rührenden Szene meines Herzens von neuem siegreich zu bemächtigen.
Nun war es dem törichten Kinde zwar keine kleine Erleichterung, mich so vergnügt und sich selbst aller Schuld und Anklage ledig zu finden. Sie wurde aber dieser Erleichterung nicht froh, sondern je mehr ihr Gewissen sich beruhigte und ihre mitgebrachte Angst verflog, desto stiller und kühler sah ich sie werden. Es beleidigte sie nachträglich doch nicht wenig, dass ich ihren Anteil an der Sache so gering anschlug, ja vergessen zu haben schien, dass ich die Rührung und Abbitte im Keim[20] unterdrückt und sie um die ganze schöne Szene gebracht hatte. Dass ich vollends gar nicht mehr in sie verliebt war, merkte sie trotz meiner großen Höflichkeit sehr wohl, und das war das schlimmste. Mochte ich Arme und Beine verloren haben, ich war doch immer ein Anbeter gewesen, den sie zwar nicht geliebt und nie beglückt, an dessen Schmachten sie aber, je elender er war, desto größere Genugtuung gefunden hätte. Nun war es damit nichts, wie sie sehr deutlich merkte,