Kein Wunder, dass solch ein vermessenes Treiben die ehrbaren Frauen der Stadt, insbesondere die älteren, erbitterte. In den Kirchen eiferten die Priester gegen die frühe Verderbnis, auf dem Marktplatze ballten die Weiber zornig die Fäuste, und mehr als einmal klirrten nachts Steine gegen Fenster und Tor. Aber so sehr auch die Sittigen sich ergrimmten, alle die verlassenen Ehefrauen, die einsamen Witwen, so belfernd sie aufmuckten, die alten, im Handwerk erfahrenen Dirnen, denen plötzlich dies übermütig freche Fohlen in ihre Lustwiese sprang – keiner von allen Frauen brannte der Unmut dermaßen übermächtig in der Seele wie Sophia, ihrer Schwester. Nicht, dass jene so lästerlichem Lebenswandel sich ergab, riss ihr die Seele wund, sondern die Reue, dass sie selber damals versäumt, demselben Antrag des Edelknaben zu folgen, und jener derart alles zugefallen, was sie selber heimlich ersehnte, Macht über Menschen und Üppigkeit des Daseins: ihr aber fuhr noch immer nachts der Sturm in die windoffene kalte Kammer und heulte mit der zänkischen Mutter um die Wette. Zwar hatte wiederholt die Schwester im eitlen Gefühl ihres Reichtums ihr kostbare Kleider zugesandt; doch Sophias Stolz weigerte sich, Almosen zu empfangen. Nein, das konnte ihren Ehrgeiz nicht kühlen, der kühneren Schwester jetzt ruhmlos nachzuschreiten und nun mit ihr sich um Liebhaber zu balgen wie einstens um süßes Pfefferbrot. Ihr Sieg, so fühlte sie, müsse vollkommener sein. Und als Sophia nun Tag und Nacht sann, welcher Art sie jene an Ruhm und Bewunderung zu übertreffen vermöchte, wurde sie an dem immer unbändigeren Andrang der Männer gewahr, dass jenes bescheidene Gut, das ihr verblieben war, ihre Jungfräulichkeit und unberührte Ehre, ein köstlich Lockmittel sei und gleichzeitig ein Pfand, mit dem eine kluge Frau prächtig wuchern könnte. So beschloss sie, gerade das in eine Kostbarkeit zu verwandeln, was ihre Schwester vorzeitig verschwendete, und ihre Tugend ebenso sichtlich zur Schau zu stellen wie jene Buhlerin den jungen Leib. War jene gefeiert um ihrer prunkvollen Hoffart willen, sie wollte es nun werden durch ihre ärmliche Demut. Und noch standen die lästernden Mäuler nicht stille, als eines Morgens die staunende Stadt neuen Schmaus ihrer Neugier empfing: Sophia, die Zwillingsschwester Helenas, der Buhlerin, sei aus Scham und gleichsam zur Buße für ihrer Schwester unziemlichen Lebenswandel der irdischen Welt entflüchtet und habe sich als Novizin jenem frommen[40] Orden beigesellt, der sich der Wartung und Pflege der Gebrestigen im Siechenhause mit unermüdlicher Sorge hingab. Nun rauften die zu spät gekommenen Liebhaber wütig ihr Haar, dass dieses unberührte Juwel ihnen entgangen. Die Frommen wiederum, gern die seltene Gelegenheit nutzend, einmal der sinnlichen Verworfenheit das schöne Bild der Gottesfurcht entgegenzustellen, verbreiteten mit Eifer die Botschaft in alle Länder, so dass von keiner Jungfrau in Aquitanien je mehr Redens und Rühmens war denn von Sophia, dem aufopfernden Mädchen, das tags und nachts der Schwärigen und Hinfälligen warte und selbst den Dienst bei den Aussätzigen nicht scheue. Die Frauen beugten das Knie vor ihr, wenn sie in ihrer weißen Haube gesenkten Blickes über die Straße ging, der Bischof rühmte sie in oftmaliger Rede als vornehmstes Beispiel weiblicher Tugend, und die Kinder blickten auf zu ihr wie zu einem seltenen Sternbild. Mit einmal war – wie man wohl glauben mag, sehr zum Ärger Helenas – die ganze Aufmerksamkeit des Landes nicht mehr ihr zugewandt, sondern einzig dem weißen Sühneopfer, das, um der Sünde zu entfliehen, wie eine Taube sich in die Himmel der Demut aufgeschwungen.
Ein sonderbar dioskurisches Zwiegestirn leuchtete nun in den nächsten Monaten über dem staunenden Land, den Sündern sowohl als auch den Frommen zu gleichem Wohlgefallen. Denn war jenen durch Helenas verschwenderische Lust des Leibes allzeit geboten, so vermochten diese ihre Seele an dem tugendhaft leuchtenden Spiegelbilde Sophias zu erbauen, und dank solcher Zwiefalt schien in dieser Stadt zu Aquitanien zum erstenmal seit Weltbeginn das Reich Gottes auf Erden säuberlich und sichtlich von jenem des Widerparts getrennt. Wer die Reinheit liebte, dem war die Schutzpatronin zur Stelle, und wer in Wollust des Fleisches versunken war, dem winkte irdischer Genuss in den Armen der unwürdigen Schwester. Aber in jedem einzelnen irdischen Herzen gehen ja zwischen dem Guten und Bösen, zwischen Fleisch und Geist sonderbar schmugglerische Wege hinüber und herüber, und es dauerte nicht lange, bis es sich erwies, dass gerade diese Zwiefalt unvermuteter Art den Frieden der Seelen bedrohte. Denn da die Zwillingsschwestern trotz höchst ungleichem Lebenswandel körperlich kaum unterscheidbar blieben, gleichen Wuchses, gleicher Augenfarbe, gleichen Lächelns und gleicher Lieblichkeit, wie natürlich, dass alsbald eine leidenschaftliche Verwirrung unter den Männern der Stadt entstand. Hatte etwa ein Jüngling eine heiße Nacht in den Armen Helenas verbracht und trat dann morgens hastig, gleichsam um das Sündige sich von der Seele zu baden, in die Frühe hinaus, so rieb er verwundert und wie von Teufelsspuk erschreckt die Augen. Denn die schöne Novizin im bescheidenen grauen Gewand der Pflegerin, die da eben einen keuchenden Greis im Rollstuhle durch den offenen Garten des Spitals schob und ihm ohne Ekel mit einer milden und zugleich zarten Gebärde den Speichel von dem zahnlosen Mund wischte, schien ihm genau dieselbe, die er eben noch nackt und glühend im buhlerischen Bette verlassen. Er starrte hin: ja, es waren die gleichen Lippen, dieselben runden