Veber nickte. «Ja, auch von der Rue Clavel. Kannten sich wahrscheinlich und waren bei derselben Hebamme. Kam sogar um dieselbe Zeit, abends, wie die andere. Gut, daß ich Sie noch im Hotel erreicht habe. Dachte schon, Sie wären nicht mehr da.»
Ravic sah ihn an. «Wenn man im Hotel wohnt, ist man meistens abends nicht da, Veber».
«Aber warum wohnen Sie dann eigentlich immer im Hotel?»
«Es ist bequem und unpersönlich. Man ist allein und doch nicht allein.»
«Wollen Sie das?»
«Ja.»
«Das können Sie anderswie doch auch. Wenn Sie sich ein kleines Appartement mieten, haben Sie es doch ebenso.»
«Vielleicht.» Ravic beugte sich über das Mädchen.
«Finden Sie nicht auch, Eugenie?» fragte Veber.
Die Operationsschwester blickte auf. «Herr Ravic wird das nie tun», sagte sie kalt.
«Doktor Ravic, Eugenie», korrigierte Veber. «Er war Chefchirurg eines großen Hospitals in Deutschland. Viel mehr als ich.»
«Hier …», begann die Schwester und rückte ihre Brille zurecht.
Veber winkte rasch ab. «Gut! Gut! Wir wissen das alles. Hier erkennt der Staat keine ausländischen Examen an. Blödsinnig genug! Aber woher wissen Sie so genau, daß er kein Appartement nehmen wird?»
«Herr Ravic ist ein verlorener Mensch; er wird nie ein Heim gründen.»
«Was?» fragte Veber erstaunt . «Was reden Sie da?» «Herrn Ravic ist nichts mehr heilig. Das ist der Grund.»
«Bravo», sagte Ravic vom Bett des Mädchens her.
«Hat man so etwas schon mal gehört?» Veber starrte Eugenie an.
«Fragen Sie ihn nur selbst, Doktor Veber.»
«Sie haben ins Schwarze getroffen, Eugenie. Aber wenn einem nichts mehr heilig ist, wird einem alles auf eine menschlichere Weise wieder heilig. Sie haben keinen Glauben.»
Eugenie strich sich energisch den weißen Kittel über der Brust zurecht. «Ich habe gottlob meinen Glauben.»
Ravic griff nach seinem Mantel. «Glaube macht leicht fanatisch. Deshalb haben alle Religionen so viel Blut gekostet. Toleranz ist die Tochter des Zweifels, Eugenie. Sind Sie mit all Ihrem Glauben nicht viel aggressiver gegen mich als ich verlorener Ungläubiger gegen Sie?»
Veber lachte. «Da haben Sie es, Eugenie. Antworten Sie nicht. Es wird nur noch schlimmer!»
Vebers Büro war voll von Möbeln aus der Empirezeit; weiß, golden und zerbrechlich. Über dem Schreibtisch hingen Fotografien seines Hauses und seines Gartens. Die Klinik gehörte Veber.
«Was wollen Sie trinken, Ravic? Kognak oder Dubonnet?»
«Kaffee, wenn Sie noch welchen da haben.»
«Natürlich.»
Veber stellte die Maschine auf den Schreibtisch und schaltete den Kontakt ein. Dann wandte er sich an Ravic.
«Können Sie mich heute nachmittag in der ›Osiris‹ vertreten?»
«Selbstverständlich.»
«Macht es Ihnen nichts?»
«Ich habe nichts vor.»
«Gut. Ich brauche dann nicht extra wieder hereinzufahren. Kann in meinem Garten arbeiten.»
«Unsinn», sagte Ravic. «Ich habe es doch schon oft genug gemacht.»
«Das ist richtig.»
« Idiotisch genug, daß ein Mann mit Ihrem Können hier nicht offiziell arbeiten darf und sich als schwarzer Chirurg verstecken muß.»
«Aber Veber! Das ist doch schon eine alte Geschichte. Geht ja allen Ärzten so, die aus Deutschland geflüchtet sind.»
«Trotzdem! Es ist lächerlich! Sie machen Durants schwierigste Operationen, und er macht sich einen Namen damit.»
«Besser, als wenn er sie selbst machte.» Veber lachte.
«Ich sollte nicht reden. Sie machen meine ja auch. Aber schließlich bin ich hauptsächlich Frauenarzt und kein Spezialist als Chirurg.»
Die Kaffeemaschine begann zu pfeifen. Veber stellte sie ab. Er holte Tassen aus einem Schrank und goß den Kaffee ein. «Eines verstehe ich nicht, Ravic», sagte er. «Weshalb wohnen Sie wirklich noch immer in dieser Bude, dem ›International‹. Warum mieten Sie sich nicht eines dieser neuen Appartements in der Nähe des Bois? Ein paar Möbel können Sie überall billig kaufen. Dann wissen Sie doch wenigstens, was Sie haben.»
«Ja», sagte Ravic. «Dann wüßte ich, was ich hätte.»
«Na also, warum tun Sie es nicht?»
Ravic trank einen Schluck Kaffee. Er war bitter und sehr stark.
«Veber», sagte er, «Sie sind ein gutes Beispiel für die Krankheit unserer Zeit: bequemes Denken. In einem Atemzug bedauern Sie, daß ich illegal hier arbeiten muß, und gleichzeitig fragen Sie mich, warum ich kein Appartement miete.»
«Was hat das eine mit dem andern zu tun?»
Ravic lachte ungeduldig. «Wenn ich ein Appartement nehme, muß ich bei der Polizei angemeldet werden. Dazu brauche ich einen Paß und ein Visum.»
«Richtig. Daran habe ich nicht gedacht. Und im Hotel?»
«Da auch. Aber es gibt einige Hotels in Paris, die es mit dem Anmelden nicht so genau nehmen.»Ravic goß einen Schluck Kognak in seinen Kaffee. «Eines davon ist das ›International‹. Deshalb wohne ich da. «Ravic», sagte Veber, «ich wußte das nicht. Ich dachte nur, Sie dürften hier nicht arbeiten. Das ist ja eine verdammte Situation.»
«Es ist ein Paradies, verglichen mit einem deutschen Konzentrationslager.»
«Und die Polizei? Wenn sie doch einmal kommt?»
«Wennsie uns erwischt, gibt es ein paar Wochen Gefängnis und Ausweisung über die Grenze. Meistens in die Schweiz. Im Wiederholungsfalle sechs Monate Gefängnis.»
«Was?»
«Sechs Monate», sagte Ravic. «Aber das ist doch unmenschlich.»
«Das dachte ich auch, bis ich es lernte.»
«Wieso lernte? Ist Ihnen denn das schon einmal passiert?»
«Nicht einmal. Dreimal. Ebenso wie hundert andern auch. Im Anfang, als ich noch nichts davon wußte. Später, als ich dann wieder hierher zurückkam, wußte ich natürlich Bescheid.»
Veber stand auf. «Aber um Himmels willen …» Er rechnete. «Dann sind Sie ja über ein Jahr für nichts im Gefängnis gewesen.»
«Nicht so lange. Nur zwei Monate.»
«Wieso? Sie sagten doch, im Wiederholungsfalle wären es schon sechs Monate?»
Ravic lächelte. «Wenn man Erfahrung hat, kann man unter einem andern Namen zurückkommen. Wir haben doch keine Papiere . Ravic ist mein dritter Name. Ich habe ihn seit fast zwei Jahren. Nichts passiert seitdem. Scheint mir Glück zu bringen. Meinen wirklichen habe ich schon fast vergessen.»
Veber schüttelte den Kopf. «Und das alles nur, weil Sie kein Nazi sind.»
«Natürlich. Nazis haben erstklassige Papiere. Und sämtliche Visa, die sie wollen.»
«Schöne Welt, in der wir leben! Daß die Regierung da nichts tut.Die Regierung hat einige Millionen Arbeitslose, für die sie zuerst sorgen muß. Außerdem ist das nicht nur in Frankreich so. Es ist überall dasselbe.»
Ravic stand auf. « In zwei Stunden werde ich wieder nach dem Mädchen sehen. Nachts auch noch einmal.»
Veber kam ihm nach zur Tür. «Hören Sie, Ravic», sagte er, «kommen Sie doch einmal abends zu uns heraus. Zum Essen.»
Ravic ging ins nächste Bistro. Er setzte sich an ein Fenster, um auf die Straße blicken zu können. Er liebte das – gedankenlos