Die Frau streifte ihn beinahe, so dicht ging sie an ihm vorüber. Im nächsten Augenblick schwankte sie und wäre gefallen, wenn er sie nicht gehalten hätte. Er hielt ihren Arm fest. «Wo wollen Sie hin?» fragte er nach einer Weile.
Die Frau starrte ihn an. «Lassen Sie mich los», flüsterte sie.
Ravic erwiderte nichts. Er hielt ihren Arm weiter fest.
«Lassen Sie mich los! Was soll das?»
Die Frau bewegte kaum die Lippen. Ravic hatte den Eindruck, daß sie ihn gar nicht sah. Sie blickte durch ihn hindurch, irgendwohin in die leere Nacht. Sie war nicht betrunken. Er hielt ihren Arm nicht mehr sehr fest.
«Wo wollen Sie wirklich hin, nachts, allein, um diese Zeit in Paris?» sagte er dann noch einmal ruhig und ließ ihren Arm los.
Die Frau schwieg.
«Dahin vielleicht?» Er deutete mit seinem Kopf auf die Seine.
Die Frau antwortete nicht. «Zu früh», sagte Ravic. «Zu früh und viel zu kalt im November.»
Er zog ein Päckchen Zigaretten hervor.
«Geben Sie mir auch eine Zigarette», sagte die Frau mit tonloser Stimme.
Ravic zeigte ihr das Päckchen.«Schwarzer Tabak. Wahrscheinlich zu stark für Sie. Ich habe keine anderen bei mir.»
Er sah die Frau an. Worum hatte er sie eigentlich angehalten? Es war etwas mit ihr los, das war klar. Aber was ging es ihn an? Er hatte schon viele Frauen gesehen, mit denen etwas los war, besonders nachts, besonders in Paris, und es war ihm jetzt egal, und er wollte nur noch ein paar Stunden schlafen.
«Gehen Sie nach Hause», sagte er. «Was suchen Sie um diese Zeit noch auf der Straße?»
Er schlug seinen Mantelkragen hoch. Die Frau sah ihn an, als verstände sie ihn nicht. «Nach Hause?» wiederholte sie. Wieder einmal jemand, der nicht wußte, wohin er sollte, dachte Ravic. Er hätte es voraussehen können. Es war immer dasselbe. Nachts wußten sie nicht, wohin sie sollten, und am nächsten Morgen waren sie verschwunden, ehe man erwachte. Dann wußten sie wohin. «Kommen Sie, wir gehen irgendwo noch einen Schnaps trinken», sagte er.
Sie gingen die Avenue Pierre I. de Serbie. Ravic deutete auf einen schmalen Eingang, der in ein Kellerloch führte. «Hier – da wird es schon noch etwas geben.»
Es war eine Chauffeurkneipe. Ein paar Taxichauff eure und ein paar Huren saßen darin. Die Chauff eure spielten Karten. Die Huren tranken Absinth. Sie musterten die Frau mit raschem Blick. Dann wandten sie sich gleichgültig ab. Ravic setzte sich mit der Frau an einen Tisch neben dem Eingang. Es war bequemer; er konnte dann rascher weggehen. Er zog seinen Mantel nicht aus.
«Was wollen Sie trinken?» fragte er.
«Ich weiß nicht. Irgend etwas.» «Zwei Calvados», sagte Ravic dem Kellner.
«Und ein Paket Chesterfield-Zigaretten.»
«Haben wir nicht», erklärte der Kellner.
«Nur französische.» «Gut. Dann ein Paket Laurens grün.»
«Grün haben wir auch nicht. Nur blau.»
Der Kellner brachte die Gläser und eine Schachtel Zigaretten.
«Laurens grün. Fand noch eine» Ravic reichte der Frau ein Glas hinüber.
«Hier, trinken Sie das. Es ist das beste um diese Zeit. Oder wollen Sie Kaffee?»
«Nein.»
Die Frau trank das Glas aus. Ravic betrachtete sie. Sie hatte ein ausgelöschtes Gesicht, fast ohne Ausdruck. Der Mund war voll, aber blaß, die Konturen schienen verwischt, und nur das Haar war sehr schön, von einem leuchtenden, natürlichen Blond. Sie trug eine Baskenmütze und unter dem Regenmantel ein blaues Schneiderkostüm. Das Kostüm war von einem guten Schneider gemacht, aber der grüne Stein des Ringes auf ihrer Hand war viel zu groß, um nicht falsch zu sein.
«Wollen Sie noch einen?» fragte Ravic.
Sie nickte. Er winkte dem Kellner. «Noch zwei Calvados. Aber größere Gläser.»
«Größere Gläser? Auch mehr drin?»
«Ja.»
«Also zwei doppelte Calvados.»
Er langweilte sich und war sehr müde. Er hatte vierzig Jahre eines wechselvollen Lebens hinter sich. Er lebte seit einigen Jahren in Paris. Der Kellner brachte die Gläser. Ravic nahm den aromatisch riechenden Apfelschnaps und stellte ihn vor die Frau. «Trinken Sie das noch. Es hilft nicht viel, aber es wärmt. Und was Sie auch haben – nehmen Sie es nicht zu wichtig. Es gibt wenig, das lange wichtig bleibt.»
Die Frau sah ihn an. Sie trank nicht.
«Es ist so», sagte Ravic. «Besonders nachts. Die Nacht übertreibt.»
Die Frau sah ihn noch immer an. «Sie brauchen mich nicht zu trösten», sagte sie dann. «Um so besser.»
Ravic sah nach dem Kellner. Er hatte genug. Er kannte diesen Typ. Wahrscheinlich eine Russin, dachte er.
«Sie sind Russin?» fragte er.
«Nein.»
Ravic zahlte und stand auf, um sich zu verabschieden. Im gleichen Augenblick stand die Frau auch auf. Sie tat es schweigend und selbstverständlich. Ravic sah sie an. Gut, dachte er, ich kann es auch draußen tun. Es hatte angefangen zu regnen. Ravic blieb vor der Tür stehen.
«Wo wohnen Sie denn?»
Die Frau machte eine schnelle Bewegung. «Dahin kann ich nicht! Nein! Das kann ich nicht! Nicht dahin!» Ihre Augen waren plötzlich voll von Angst.
«Kennen Sie nicht irgend jemand, zu dem Sie gehen können? Eine Bekannte? Sie können in der Kneipe telefonieren.»
«Nein. Niemand.»
«Aber Sie müssen doch irgendwohin. Haben Sie kein Geld für ein Zimmer?»
«Doch.»
«Dann gehen Sie in ein Hotel. Es gibt hier überall welche in den Seitenstraßen.» Die Frau antwortete nicht.
«Irgendwohin müssen Sie doch», sagte Ravic ungeduldig. «Sie können doch nicht im Regen auf der Straße bleiben.»
«Sie haben recht», sagte sie.
«Sie haben ganz recht. Danke für alles.»
Sie sah Ravic an und versuchte ein Lächeln. Dann ging sie fort durch den Regen.Ravic stand einen Augenblick still. Er dachte, daß er die Frau nicht allein lassen muss. Er folgte ihr. «Kommen Sie mit», sagte er unfreundlich. Sie gingen zusammen. Er ging rschnell. Er war zu müde, um zu denken. Sie folgte ihm schweigend. Obwohl er nichts von ihr wußte, fühlte er, dass sie ihm nah ist.
Ravic wohnte in einem kleinen Hotel in einer Seitenstraße der Avenue Wagram, hinter der Place des Ternes. Es war ein ziemlich baufälliger Kasten, an dem nur eines neu war: das Schild über dem Eingang mit der Inschrift : «Hotel International.» Er klingelte.
«Habt ihr noch ein Zimmer frei?» fragte er den Jungen, der ihm öffnete. Der Junge sah ihn verschlafen an.
«Der Concierge ist nicht da», sagte er dabei verstand er nicht, wozu er noch ein zweites Zimmer wollte.Ravic gab dem Jungen ein Trinkgeld und nahm seinen Schlüssel.
«Sie können bei mir bleiben», sagte er.
«Nur einen Augenblick …»
«Sie können hier schlafen. Das ist das einfachste.»
Die Frau schien ihn nicht zu hören. Sie bewegte langsam, fast automatisch den Kopf.
«Sie hätten mich auf der Straße lassen sollen. Jetzt … ich glaube, ich kann jetzt nicht mehr.»
«Das glaube ich auch. Sie können hier bleiben und schlafen. Das ist das beste. Morgen werden wir dann weitersehen.» Die Frau sah ihn an.
«Ich will Sie nicht …»
«Mein Gott», sagte Ravic.
«Sie stören mich wirklich nicht. Es ist nicht das erstemal, daß jemand hier über Nacht bleibt, weil