Drunten schlang sich die Wegschleife zum Sanatorium her-auf, die er gestern abend gekommen war. Kurzstieliger, stern-förmiger Enzian stand im feuchten Grase des Abhanges. Ein Teil der Plattform war als Garten eingezäunt; dort gab es Kies-wege, Blumenrabatten und eine künstliche Felsengrotte zu Fü-ßen einer stattlichen Edeltanne. Eine mit Blech gedeckte Halle, in der Liegestühle standen, öffnete sich gegen Süden, und dane-ben war eine rotbraun gestrichene Flaggenstange aufgerichtet, an deren Schnur zuweilen das Fahnentuch sich entfaltete, – eine Phantasiefahne, grün und weiß, mit dem Emblem der Heilkun-de, einem Schlangenstab, in der Mitte.
Eine Frau ging im Garten umher, eine ältere Dame von dü-sterem, ja tragischem Aussehen. Vollständig schwarz gekleidet und um das wirre schwarzgraue Haar einen schwarzen Schleier gewunden, wanderte sie ruhelos und gleichmäßig rasch, mit krummen Knien und steif nach vorn hängenden Armen auf den Pfaden dahin und blickte, Querfalten in der Stirn, mit kohl-schwarzen Augen, unter denen schlaffe Hautsäcke hingen, starr von unten geradeaus. Ihr alterndes, südlich blasses Gesicht mit dem großen, verhärmten, einseitig abwärts gezogenen Mund erinnerte Hans Castorp an das Bild einer berühmten Tragödin, das ihm einmal zu Gesichte gekommen, und unheimlich war es zu sehen, wie die schwarzbleiche Frau, offenbar ohne es zu wis-sen, ihre langen, gramvollen Tritte dem Takt der herüberklin-genden Marschmusik anpaßte.
Nachdenklich teilnehmend blickte Hans Castorp auf sie hin-ab, und ihm war, als verdunkele ihre traurige Erscheinung die Morgensonne. Gleichzeitig aber faßte er noch etwas anderes auf, etwas Hörbares, Geräusche, die aus dem Nachbarzimmer zur Linken, dem Zimmer des russischen Ehepaars, nach Joachims Angabe, kamen und gleichfalls nicht zu dem heiteren, fri-schen Morgen passen wollten, sondern ihn irgendwie klebrig zu verunreinigen schienen. Hans Castorp erinnerte sich, daß er schon gestern abend dergleichen vernommen, doch hatte seine Müdigkeit ihn gehindert, darauf zu achten. Es war ein Ringen, Kichern und Keuchen, dessen anstößiges Wesen dem jungen Mann nicht lange verborgen bleiben konnte, obgleich er sich infangs aus Gutmütigkeit bemühte, es harmlos zu deuten. Man hätte dieser Gutmütigkeit auch andere Namen geben können, zum Beispiel den etwas faden der Seelenreinheit, oder den ern-sten und schönen der Schamhaftigkeit, oder die herabsetzenden Namen der Wahrheitsunlust und Duckmäuserei, oder selbst den einer mystischen Scheu und Frömmigkeit, – von alledem war etwas in Hans Castorps Verhalten zu den Geräuschen nebenan, und physiognomisch drückte es sich aus in einer ehrbaren Ver-finsterung seiner Miene, so, als dürfe und wolle er von dem, was er da hörte, nichts wissen: einem Ausdruck von Sittsamkeit, der nicht ganz originell war, den er aber bei bestimmten Gele-genheiten anzunehmen pflegte.
Mit dieser Miene also zog er sich von dem Balkon ins Zim-mer zurück, um nicht länger Vorgänge zu belauschen, die ihm ernst, ja erschütternd schienen, obgleich sie sich unter Gekicher kundtaten. Aber im Zimmer war das Treiben jenseits der Wand nur noch deutlicher zu hören. Es war eine Jagd um die Möbel herum, wie es schien, ein Stuhl polterte hin, man ergriff einan-der, es gab ein Klatschen und Küssen, und hierzu kam, daß es nun Walzerklänge waren, die verbraucht melodiösen Phrasen eines Gassenhauers, die von außen und fernher die unsichtbare Szene begleiteten. Hans Castorp stand, das Handtuch in Hän-den, und horchte wider besseren Willen. Und plötzlich errötete er unter seinem Puder, denn was er deutlich hatte kommen se-hen, war gekommen und das Spiel nun ohne allen Zweifel ins Tierische übergegangen. Herrgott, Donnerwetter! dachte er, in-dem er sich abwandte, um mit absichtlich geräuschvollen Bewe-gungen seine Toilette zu beenden. Nun, es sind Eheleute, in Gottes Namen, soweit ist die Sache in Ordnung. Aber am hel-len Morgen, das ist doch stark. Und mir ist ganz, als hätten sie schon gestern abend keinen Frieden gehalten. Schließlich sind sie doch krank, da sie hier sind, oder wenigstens einer von ih-nen, da wäre etwas Schonung am Platze. Aber das eigentliche Skandalöse ist selbstverständlich, dachte er zornig, daß die Wän-de so dünn sind und man alles so deutlich hört, das ist doch ein unhaltbarer Zustand! Billig gebaut natürlich, schändlich billig gebaut! Ob ich die Leute nachher zu sehen bekomme oder ih-nen gar vorgestellt werde? Das wäre im höchsten Grade pein-lich. Und hier wunderte sich Hans Castorp, denn er bemerkte, daß die Röte, die ihm vorhin in die frisch rasierten Wangen ge-stiegen war, nicht daraus weichen wollte, oder doch nicht das Wärmegefühl, wovon sie begleitet gewesen, sondern fix darin stand und nichts anderes als jene trockene Gesichtshitze war, an der er gestern abend gelitten, deren er im Schlafe ledig gewor-den, und die bei dieser Gelegenheit sich wieder eingestellt hatte. Das stimmte ihn nicht freundlicher gegen die benachbarten Eheleute, vielmehr murmelte er mit vorgeschobenen Lippen ein sehr absprechendes Wort gegen sie und beging dann den Fehler, sein Gesicht nochmals mit Wasser zu kühlen, was das Übel be– tend verschlimmerte. So geschah es, daß seine Stimme miß-mutig schwankte, als er seinem Vetter antwortete, der ihm zuru-fend an die Wand geklopft hatte, und daß er bei Joachims Ein-tritt nicht eben den Eindruck eines erfrischten und morgenfro-hen Menschen machte.
Frühstuck
«Tag», sagte Joachim. «Das war ja nun deine erste Nacht hier oben. Bist zu zufrieden?»
Er war fertig zum Ausgehen, sportlich gekleidet, in kräftig gearbeiteten Stiefeln, und trug über dem Arm seinen Ulster, in dessen Seitentasche sich die flache Flasche abzeichnete. Einen Mut hatte er heute nicht.
"Danke", erwiderte Hans Castorp, "es geht. Ich will weiter nicht urteilen. Etwas konfus geträumt habe ich, und dann hat das Haus ja den Nachteil, daß es sehr hellhörig ist, das ist etwas lästig. Wer ist denn die Schwarze da draußen im Garten?"
Joachim wußte sogleich, wer gemeint war.
"Ach, das ist 'Tousles-deux'", sagte er. "So wird sie allgemein genannt hier von uns, denn das ist das einzige, was man von ihr zu hören bekommt. Mexikanerin, weißt du, kann kein Wort deutsch und auch französisch fast gar nicht, nur ein paar Brocken. Sie ist seit fünf Wochen hier bei ihrem ältesten Sohn, einem vollständig hoffnungslosen Fall, der jetzt ziemlich rasch eingehen wird, – er hat es schon überall, durch und durch ver-giftet ist er, kann man wohl sagen, das sieht dann zuletzt unge-fähr wie Typhus aus, sagt Behrens, – scheußlich für alle Beteilig-ten jedenfalls. Vor vierzehn Tagen kam nun der zweite Sohn herauf, weil er den Bruder noch sehen wollte – , bildhübscher Kerl übrigens, wie auch der andere, – beide sind bildhübsche Kerle, so glutäugig, die Damen waren ganz aus dem Häuschen.
Na, der jüngere hatte unten ja wohl schon ein bißchen gehustet, war aber sonst ganz munter gewesen. Und kaum ist er hier, was meinst du, kriegt er Temperatur, – aber gleich 39,5, höchstes Fieber, verstehst du, legt sich ins Bett, und wenn er noch auf-kommt, sagt Behrens, dann hat er mehr Glück als Verstand. Je-denfalls sei es die höchste Zeit gewesen, sagt er, daß er herauf-kam … Ja, und seitdem geht die Mutter nun so herum, wenn sie nicht bei ihnen sitzt, und wenn man sie anspricht, sagt sie immer nur 'Tous les deux!', denn mehr kann sie nicht sagen, und hier ist im Augenblick niemand, der spanisch versteht."
"So ist es also mit der", sagte Hans Castorp. "Ob sie es wohl auch zu mir sagen wird, wenn ich sie kennenlerne? Das wäre doch sonderbar, – ich meine, es wäre komisch und unheimlich zu gleicher Zeit", sagte er, und seine Augen waren wie gestern: sie schienen ihm heiß und schwer, als habe er lange geweint, und jenen Glanz hatten sie wieder, den der neuartige Husten des Herrenreiters darin entzündet. Überhaupt kam es ihm vor, als habe er jetzt erst den Anschluß ans Gestrige gefunden, als sei er gleichsam wieder im Bilde, was nach seinem Erwachen zu-nächst so recht nicht der Fall gewesen war. Er sei übrigens fer-tig, erklärte er, indem er etwas Lavendelwasser