Die Modernisierungsdynamik und personale Zugriffsintensität des Nationalsozialismus faszinierten nicht nur die eigenen Anhänger. Hitlers Angebot war für die Zeitgenossen attraktiver, als es im Rückblick und im Bewusstsein seiner monströsen Verbrechen erscheinen mag. Hitler schien Modernisierung ohne Pluralisierung und damit ohne Relativierung eigener Geltungsansprüche und ohne liberale Freisetzung des Subjekts zu versprechen.
Mein persönliches Interesse an Hitler verdanke ich der katholischen Jugendarbeit in meiner Heimatstadt Bayreuth. 1973, noch zu Zeiten des kommunistischen Regimes, reiste der damalige Kaplan Josef Kraus mit uns nach Polen. Wir besichtigten Breslau, Krakau, Tschenstochau – und auch die Gedenkstätte des KZ Auschwitz. Dass der zivilisatorische Boden unter unseren Füßen dünn und dass er nicht von den Rändern der Gesellschaft, sondern von ihrer Mitte her gefährdet ist, das wurde mir dort klar und hat mich seitdem nicht losgelassen.
Basis dieses Buches sind Forschungen, die ich bereits vor einiger Zeit im Zusammenhang mit meiner pastoraltheologischen Habilitationsschrift „Kirchenbildung in der Moderne. Konstitutionsprinzipien der deutschen katholischen Kirche“7 unternommen und der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgelegt habe. Die Ergebnisse wurden erweitert und aktualisiert und werden hiermit einem breiteren, historisch und theologisch interessierten Publikum vorgelegt.
Ottmar Fuchs, Maximilian Liebmann, Lucia Scherzberg, Norbert Reck, Katharina von Kellenbach und Claus-Eckehard Bärsch danke ich für den anregenden Gedankenaustausch über die Fachgrenzen hinweg, ebenfalls Elmar Klinger, der mich als Erster auf Hitler als Thema der Theologie hingewiesen hat. Meine Mitarbeiterin Frau Ingrid Hable hat dieses Buch mit großer Sorgfalt redigiert und zur Veröffentlichungsreife gebracht: hierfür herzlichen Dank!
Ich widme dieses Buch Ernst Ludwig Grasmück zu seinem 75. Geburtstag in dankbarer Erinnerung an die Jahre an seinem kirchenhistorischen Lehrstuhl.
Graz, Januar 2008
Abgrenzungen
I
„Hitlers Theologie“: Um was es dabei geht und um was nicht
1. Hitlers Projekt
Der Nationalsozialismus war etwas wirklich Neues: ein für viele faszinierendes Amalgam von technischer Modernisierung, nationalem Gemeinschafts- und sozialem Gleichheitsversprechen, voller ästhetischer Faszinationsangebote und individueller Heroismusanmutung. In ihm schien wieder verbunden, was spätestens in der forcierten Modernisierung der Weimarer Republik, wie viele meinten, auseinandergedriftet war: Individualität und Kollektiv, Modernität und Traditionsanschluss, Freiheit – etwa gegenüber dem altbackenen Christentum – und Gebundenheit ans große Alte. Vor allem aber versprach der Nationalsozialismus die identitätsstiftende Idylle einer „Volksgemeinschaft“ auf kulturell vertrauter, einheitlicher Basis.
Dass solch ein Projekt in einer differenzierten Gesellschaft nur mit massiven Gewalt- und Ausschlussmechanismen funktioniert, war von Anfang an klar und wurde vom Regime auch nie versteckt. Die offene Gewaltbereitschaft all jenen gegenüber, die nicht mitmachen wollten, war spätestens seit dem Reichstagsbrand Ende Februar 1933 und den ihm folgenden Verhaftungswellen offenkundig. Die Ermordung inner- und außerparteilicher Machtkonkurrenten Ende Juni / Anfang Juli 1934, vom katholischen Staatsrechtler Carl Schmitt kurz darauf mit aller juristischer Finesse („Der Führer schützt das Recht“) legitimiert,1 und die früh einsetzende Diskriminierung der jüdischen Deutschen zeigten sehr schnell: Wer nach Hitlers Meinung nicht zur „Volksgemeinschaft“ gehörte oder nicht dazugehören wollte, der wurde zuerst hinaus- und bald schon in die Vernichtung geschickt. Freilich: Lange wollten sehr viele in Deutschland, und nicht nur dort, dazugehören.2
Der deutsche Nationalsozialismus war in seinem Erfolg zuerst Adolf Hitlers Projekt. Er hat es mit Macht und Geschick durchgesetzt und bis zu seinem Tod nicht aufgegeben. Programmatisch gesehen gilt sicher: Das „Phänomen existierte, bevor jemand von Hitler gehört hatte, und hätte auch weiterhin existiert, wenn er ein ‚Niemand aus Wien‘ geblieben wäre“3. Aber Erfolg hatte es nur mit und durch Hitler. Das lag an der rücksichtslosen Raffinesse, mit der Hitler die Macht errang, aber auch an der spezifischen Färbung, die er der „völkischen Bewegung“ im Nationalsozialismus gab.
Das bedeutet freilich weder, dass alles, was im teilweise polykratisch strukturierten und zunehmend chaotisch regierten „Dritten Reich“ tatsächlich passierte, unmittelbar auf Hitler zurückzuführen wäre, noch umgekehrt, dass alles, was Hitlers Projekt vorsah, auch tatsächlich verwirklicht wurde.4 Ein großer Spielraum substantieller Abweichung dürfte freilich nicht existiert haben. „Sobald er Staatschef war, diente Hitlers persönliche ‚Weltanschauung‘ … als Handlungsanweisung für die Entscheidungsträger überall im Dritten Reich.“5 Hitler selbst gaben, wie Ian Kershaw schreibt, die „Unflexibilität und quasi-messianische Verpflichtung auf eine ‚Idee‘, ein Bündel von Glaubenssätzen, die unveränderlich, einfach, in sich geschlossen und umfassend waren“, die „Willensstärke und das Wissen um das eigene Schicksal, das alle Menschen, die mit ihm in Kontakt kamen, so stark beeindruckte.“6
Hitler hat nie verborgen, was er wollte.7 Im Gegenteil: Wirklich außergewöhnlich war er, außer in der Skrupellosigkeit, nur als Redner. Hitler hat immer wieder öffentlich gesagt, was er plante und dachte. Zu Hitlers Projekt gibt es viele Projektbeschreibungen: Um sie geht es, speziell um ihre theologischen Anteile und deren Stellung in diesem Projekt.
Eberhard Jäckel versuchte 1969 als Erster, die innere Schlüssigkeit von „Hitlers Weltanschauung“8 aufzuzeigen. Jäckel identifiziert die „Eroberung des Lebensraums im Osten“ sowie die „Entfernung der Juden“, wie Jäckel formuliert, als Hitlers zentrale Anliegen.9 Hitler wollte so die von ihm mit allem Hass denunzierten gesellschaftlichen „Dekadenz“-Zustände einer liberalen und pluralistischen Demokratie beseitigen. Radikale Demokratiekritik übten freilich auch die fundamentalkonservative Rechte bis hinein in die Kirchen und, in anderer Weise, die radikale Linke. Was unterschied Hitler von beiden?
Hitler lehnte, wie die Linke und anders als die Rechte, die reaktionäre Restauration vorrevolutionärer Zustände, seien dies nun jene vor 1919 oder gar vor 1789, ab und glaubte an die Unumkehrbarkeit, ja Wünschbarkeit der jeweiligen Revolutionen. Hitler suchte eine neue, nicht-restaurative, aber eben doch anti-pluralistische gesellschaftliche Integrationsbasis. Er wollte mehr als bloß die konservative Restauration vormoderner Ordnungsstrukturen. Anders als die Linke aber suchte er diese Integrationsbasis nicht auf marxistischer „Klassenbasis“, sondern auf der Basis eines noch fiktiveren Konstrukts: der „arischen Rasse“.
Schon in der Begriffsfügung „Nationalsozialismus“ wird der Versuch deutlich, dem seit der Französischen Revolution gebräuchlichen politischen „Links-Rechts“-Schema nach vorne zu entkommen. Damit gerät Hitler in die Nähe zu den zeitgenössischen Theoretikern der so genannten „Konservativen Revolution“.10 Von ihnen unterscheidet sich Hitler aber nicht nur in der Radikalität seines Denkens, sondern vor allem in dessen konkreter Operationalisierbarkeit. Denn konkret politisch umsetzbar waren die reaktionären Visionen der „Konservativen Revolution“ nicht: Über literarisch-kulturelle Wirksamkeit kam sie nie hinaus. Hitler wusste dies nur zu gut.
Indem Hitler wichtige Elemente des nachfeudalen gesellschaftlichen Modernisierungsprogramms in sein Projekt übernimmt, verhindert er, dass es zu einer bloßen konservativen Utopie verkommt. Hitler wollte kein verloren gegangenes vorrevolutionäres Paradies restaurieren, Utopien, wie sie etwa auch in kirchlichen Kreisen gepflegt wurden.11 Die faszinationsgeleitete Einführung neuer Technologien, das Programm einer auf wissenschaftlicher und technischer Dauerinnovation beruhenden Industriegesellschaft, zentrale anti-konservative Ideen wie jene der Chancengleichheit, der Erhöhung vertikaler und horizontaler sozialer Mobilität bis hin zu egalitären Tendenzen etwa im Bildungssystem: mit all dem wurde Hitler anschlussfähig an die Weimarer Republik,12