Allmählich werden die Höfe enger, die Gebäude rücken näher aneinander, und die Hecken verschwinden. An einem der Häuser hängt, schaukelnd an einem Besenstiel zum Fenster heraus, ein Bündel Farnkraut. Hier ist die Schmiede; ein Wagen und zwei oder drei neue Karren stehen davor und versperren die Straße. Weiterhin leuchtet durch die offene Pforte der Gartenmauer ein weißes Landhaus, eine runde Rasenfläche davor mit einem Amor in der Mitte, der sich den Finger vor den Mund hält. Die Freitreppe flankieren zwei Vasen aus Bronze. Ein Amtsschild mit Wappen glänzt am Tore. Es ist das Haus des Notars, das schönste der ganzen Gegend.
Zwanzig Schritte weiter, auf der andern Seite der Straße, beginnt der Marktplatz mit der Kirche. In dem kleinen Friedhofe um sie herum, den eine niedrige Mauer von Ellbogenhöhe umschließt, liegt Grabplatte an Grabplatte. Diese alten Steine bilden geradezu ein Pflaster, auf das aus den Ritzen hervorschießendes Gras grüne Rechtecke gezeichnet hat. Die Kirche selbst ist ein Neubau aus der letzten Zeit der Regierung Karls des Zehnten. Das hölzerne Dach beginnt bereits morsch zu werden. Auf dem blauen Anstrich der Decke über dem Schiff zeigen sich stellenweise schwarze Flecken. Über dem Eingang befindet sich da, wo gewöhnlich sonst in der Kirche die Orgel ist, eine Empore für die Männer, zu der eine Wendeltreppe hinaufführt, die laut dröhnt, wenn man sie betritt.
Das Tageslicht flutet in schrägen Strahlen durch die farblosen Scheiben auf die Bankreihen hernieder, die sich von Längswand zu Längswand hinziehen. Vor manchen Sitzen sind Strohmatten befestigt, und Namensschilder verkünden weithin sichtbar: „Platz des Herrn Soundso.“ Wo sich das Schiff verengert, steht der Beichtstuhl und ihm gegenüber ein Standbild der Madonna, die ein Atlasgewand und einen Schleier, mit lauter silbernen Sternen besät, trägt. Ihre Wangen sind genau so knallrot angemalt wie die eines Götzenbildes auf den Sandwichinseln. Im Chor über dem Hochaltar schimmert hinter vier hohen Leuchtern die Kopie einer Heiligen Familie von Pietro Perugino, eine Stiftung der Regierung. Die Chorstühle aus Fichtenholz sind ohne Anstrich.
Fast die Hälfte des Marktplatzes von Yonville nehmen „die Hallen“ ein: ein Ziegeldach auf etlichen zwanzig Holzsäulen. Das Rathaus, nach dem Entwurfe eines Pariser Architekten in antikem Stil erbaut, steht in der jenseitigen Ecke des Platzes neben der Apotheke. Das Erdgeschoß hat eine dorische Säulenhalle, der erste Stock eine offene Galerie, und darüber im Giebelfelde haust ein gallischer Hahn, der mit der einen Klaue das Gesetzbuch umkrallt und in der andern die Wage der Gerechtigkeit hält.
Das Augenmerk des Fremden fällt immer zuerst auf die Apotheke des Herrn Homais, schräg gegenüber vom „Gasthof zum goldnen Löwen“. Zumal am Abend, wenn die große Lampe im Laden brennt und ihr helles, durch die bunten Flüssigkeiten in den dickbauchigen Flaschen, die das Schaufenster schmücken sollen, rot und grün gefärbtes Licht weit hinaus über das Straßenpflaster fällt, dann sieht man den Schattenriß des über sein Pult gebeugten Apothekers wie in bengalischer Beleuchtung. Außen ist sein Haus von oben bis unten mit Reklameschildern bedeckt, die in allen möglichen Schriftarten ausschreien: „Mineralwasser von Vichy“, „Sauerbrunnen“, „Selterswasser“, „Kamillentee“, „Kräuterlikör“, „Kraftmehl“, „Hustenpastillen“, „Zahnpulver“, „Mundwasser“, „Bandagen“, „Badesalz“, „Gesundheitsschokolade“ usw. usw. Auf der Firma, die so lang ist wie der ganze Laden, steht in mächtigen goldnen Buchstaben: „Homais, Apotheker“. Drinnen, hinter den hohen, auf der Ladentafel festgeschraubten Wagen, liest man über einer Glastüre das Wort „Laboratorium“ und auf der Tür selbst noch einmal in goldnen Lettern auf schwarzem Grunde den Namen „Homais“.
Weitere Sehenswürdigkeiten gibt es in Yonville nicht. Die Hauptstraße (die einzige) reicht einen Büchsenschuß weit und hat zu beiden Seiten ein paar Kramläden. An der Straßenbiegung ist der Ort zu Ende. Wenn man vorher nach links abwendet und dem Hange folgt, gelangt man hinab zum Gemeindefriedhof.
Zur Zeit der Cholera wurde ein Stück der Kirchhofsmauer niedergelegt und der Friedhof durch Ankauf von drei Morgen Land vergrößert, aber dieser ganze neue Teil ist so gut wie noch unbenutzt geblieben. Wie vordem drängen sich die Grabhügel nach dem Eingangstor zu zusammen. Der Pförtner, der zugleich auch Totengräber und Kirchendiener ist und somit aus den Leichen der Gemeinde eine doppelte Einnahme zieht, hat sich das unbenutzte Land angeeignet, um darauf Kartoffeln zu erbauen. Aber von Jahr zu Jahr vermindert sich sein bißchen Boden, und es brauchte bloß wieder einmal eine Epidemie zu kommen, so wüßte er nicht, ob er sich über die vielen Toten freuen oder über ihre neuen Gräber ärgern solle.
„Lestiboudois, Sie leben von den Toten!“ sagte eines Tages der Pfarrer zu ihm.
Diese gruselige Bemerkung stimmte den Küster nachdenklich. Eine Zeitlang enthielt er sich der Landwirtschaft. Dann aber und bis auf den heutigen Tag zog er seine Erdäpfel weiter. Ja, er versichert sogar mit Nachdruck, sie wüchsen ganz von selber.
Seit den Ereignissen, die hier erzählt werden, hat sich in Yonville wirklich nichts verändert. Noch immer dreht sich auf der Kirchturmspitze die weiß-rot-blaue Fahne aus Blech, noch immer flattern vor dem Laden des Modewarenhändlers zwei Kattunwimpel im Winde, noch immer schwimmen im Schaufenster der Apotheke häßliche Präparate in Glasbüchsen voll trübgewordnem Alkohol, und ganz wie einst zeigt der alte, von Wind und Wetter ziemlich entgoldete Löwe über dem Tore des Gasthofes den Vorübergehenden seine Pudelmähne.
An dem Abend, da das Ehepaar Bovary in Yonville eintreffen sollte, war die Löwenwirtin, die Witwe Franz, derartig beschäftigt, daß ihr beim Hantieren mit ihren Töpfen der Schweiß von der Stirne perlte. Am folgenden Tag war nämlich Markttag im Städtchen. Da mußte Fleisch zurechtgehackt, Geflügel ausgenommen, Bouillon gekocht und Kaffee gebrannt werden. Daneben die regelmäßigen Tischteilnehmer und heute obendrein der neue Doktor nebst Frau Gemahlin und Dienstmädchen! Am Billard lachten Gäste, und in der kleinen Gaststube riefen drei Müllerburschen nach Schnaps. Im Herde prasselte und schmorte es, und auf dem langen Küchentische paradierten neben einer rohen Hammelkeule Stöße von Tellern, die nach dem Takte des Wiegemessers tanzten, mit dem die Köchin Spinat zerkleinerte. Vom Hofe aus ertönte das ängstliche Gegacker der Hühner, die von der Magd gejagt wurden, weil sie etlichen die Köpfe abschneiden wollte.
Ein Herr in grünledernen Pantoffeln, eine goldne Troddel an seinem schwarzsamtnen Käppchen, wärmte sich am Kamin des Gastzimmers den Rücken. Im Gesicht hatte er ein paar Blatternarben. Sein ganzes Wesen strahlte förmlich von Selbstzufriedenheit. Offenbar lebte er genau so gleichmütig dahin wie der Stieglitz, der oben an der Decke in seinem Weidenbauer herumhüpfte. Dieser Herr war der Apotheker.
„Artemisia!“ rief die Wirtin. „Leg noch ein bißchen Reisig ins Feuer! Fülle die Wasserflaschen! Schaff den Schnaps hinein! Und mach schnell! Ach, wenn ich nur wüßte, was ich den Herrschaften, die heute eintreffen, zum Nachtisch vorsetzen soll? Heiliger Bimbam! Die Leute von der Speditionsgesellschaft hören mit ihrem Geklapper auf dem Billard auch gar nicht auf! Und der Möbelwagen steht draußen immer noch mitten auf der Straße, gerade vor der Hofeinfahrt! Wenn die Post kommt, wird es eine Karambolage geben. Ruf mir mal Hippolyt! Er soll den Wagen beiseiteschieben … Was ich sagen wollte, Herr Apotheker, diese Leute spielen schon den ganzen Vormittag. Jetzt sind sie bei der fünfzehnten Partie und beim achten Schoppen Apfelwein! Man wird mir noch ein Loch ins Tuch stoßen!“
Sie war auf einen Augenblick, den Kochlöffel in der Hand, ins Gastzimmer gelaufen.
„Das wär auch weiter kein Malheur!“ meinte Homais. „Dann schaffen Sie gleich ein neues Billard an!“
„Ein neues Billard!“ jammerte die Witwe.
„Nu freilich, Frau Franz! Das alte Ding da taugt nicht mehr viel! Ich habs Ihnen schon tausendmal gesagt. Es ist Ihr eigner Schaden! Und ein großer Schaden! Heutzutage verlangen passionierte Spieler große Bälle und schwere Queues. Mit solchen Bällchen spielt man nicht mehr. Die Zeiten ändern sich! Man muß modern sein! Sehen Sie sich mal bei Tellier im Café Français …“
Die