Der Morgen dämmerte. Sie schaute hinüber nach den Fensterreihen des Mittelbaues, lange, lange, und versuchte zu erraten, wo die einzelnen Personen alle wohnten, die sie diesen Abend beobachtet hatte. Sie sehnte sich darnach, etwas von ihrem Leben zu wissen, eine Rolle darin zu spielen, selber darin aufzugehen.
Schließlich begann sie zu frösteln. Sie entkleidete sich und schmiegte sich in die Kissen, zur Seite ihres schlafenden Gatten.
Zum Frühstück erschienen eine Menge Menschen. Es dauerte zehn Minuten. Es gab keinen Kognak, was dem Arzt wenig behagte.
Beim Aufstehen sammelte Fräulein von Andervilliers die angebrochenen Brötchen in einen kleinen Korb, um sie den Schwänen auf dem Schloßteiche zu bringen. Nach der Fütterung begab man sich in das Gewächshaus, mit seinen seltsamen Kakteen und Schlingpflanzen, und in die Orangerie. Von dieser führte ein Ausgang in den Wirtschaftshof.
Um der jungen Arztfrau ein Vergnügen zu bereiten, zeigte ihr der Marquis die Ställe. Über den korbartigen Raufen waren Porzellanschilder angebracht, auf denen in schwarzen Buchstaben die Namen der Pferde standen. Man blieb an den einzelnen Boxen stehen, und wenn man mit der Zunge schnalzte, scharrten die Tiere. Die Dielen in der Sattel- und Geschirrkammer waren blank gewichst wie Salonparkett. Die Wagengeschirre ruhten in der Mitte des Raumes auf drehbaren Böcken, während die Kandaren, Trensen, Kinnketten, Steigbügel, Zügel und Peitschen wohlgeordnet zu Reihen an den Wänden hingen.
Karl bat einen Stallburschen, sein Gefährt zurechtzumachen. Sodann fuhr er vor. Das ganze Gepäck ward aufgepackt. Das Ehepaar Bovary bedankte und verabschiedete sich bei dem Marquis und der Marquise. Und heim ging es nach Tostes.
Schweigsam sah Emma dem Drehen der Räder zu. Karl saß auf dem äußersten Ende des Sitzes und kutschierte mit abstehenden Ellbogen. Das kleine Pferd lief im Zotteltrab dahin, in seiner Gabel, die ihm viel zu weit war. Die schlaffen Zügel tanzten auf der Kruppe des Gaules. Gischt flatterte. Der Koffer, der hinten angeschnallt war, saß nicht recht fest und polterte in einem fort im Takte an den Wagenkasten.
Auf der Höhe von Thibourville wurden sie plötzlich von ein paar Reitern überholt. Lachende Gesichter und Zigarettenrauch. Emma glaubte, den Vicomte zu bemerken. Sie schaute ihm nach, aber sie vermochte nichts zu erkennen als die Konturen der Reiter, die sich vom Himmel abhoben und sich im Rhythmus des Trabes auf und nieder bewegten.
Wenige Minuten später mußten sie Halt machen, um die zerrissene Hemmkette mit einem Strick festzubinden. Als Karl das ganze Geschirr noch einmal überblickte, gewahrte er zwischen den Beinen seines Pferdes einen Gegenstand liegen. Er hob eine Zigarrentasche auf; sie war mit grüner Seide gestickt und auf der Mitte der Oberseite mit einem Wappen geschmückt.
„Es sind sogar zwei Zigarren drin!“ sagte er. „Die kommen heute abend nach dem Essen dran!“
„Du rauchst demnach?“ fragte Emma.
„Manchmal! Gelegentlich!“
Er steckte seinen Fund in die Tasche und gab dem Gaul eins mit der Peitsche.
Als sie zu Hause ankamen, war das Mittagessen noch nicht fertig. Frau Bovary war unwillig darüber. Anastasia gab eine dreiste Antwort.
„Scheren Sie sich fort“ rief Emma. „Sie machen sich über mich lustig. Sie sind entlassen!“
Zu Tisch gab es Zwiebelsuppe und Kalbfleisch mit Sauerkraut. Karl saß seiner Frau gegenüber. Er rieb sich die Hände und meinte vergnügt:
„Zu Hause ists doch am schönsten!“
Man hörte, wie Anastasia draußen weinte. Karl hatte das arme Ding gern. Ehedem, in der trostlosen Einsamkeit seiner Witwerzeit, hatte sie ihm so manchen Abend Gesellschaft geleistet. Sie war seine erste Patientin gewesen, seine älteste Bekannte in der ganzen Gegend.
„Hast du ihr im Ernst gekündigt?“ fragte er nach einer Weile.
„Gewiß! Warum soll ich auch nicht?“ gab Emma zur Antwort.
Nach Tisch wärmten sich die beiden in der Küche, während die Große Stube wieder in Ordnung gebracht wurde. Karl brannte sich eine der Zigarren an. Er rauchte mit aufgeworfenen Lippen und spuckte dabei aller Minuten, und bei jedem Zuge lehnte er sich zurück, damit ihm der Rauch nicht in die Nase stieg.
„Das Rauchen wird dir nicht bekommen!“ bemerkte Emma verächtlich.
Karl legte die Zigarre weg, lief schnell an die Plumpe und trank gierig ein Glas frisches Wasser. Währenddessen nahm Emma die Zigarrentasche und warf sie rasch in einen Winkel des Schrankes.
Der Tag war endlos: dieser Tag nach dem Feste!
Emma ging in ihrem Gärtchen spazieren. Immer dieselben Wege auf und ab wandelnd, blieb sie vor den Blumenbeeten stehen, vor dem Obstspalier, vor dem tönernen Mönch, und betrachtete sich alle diese ihr so wohlbekannten alten Dinge voll Verwunderung. Wie weit hinter ihr der Ballabend schon lag! Und was war es, das sich zwischen vorgestern und heute abend wie eine breite Kluft drängte? Diese Reise nach Vaubyessard hatte in ihr Leben einen tiefen Riß gerissen, einen klaffenden Abgrund, wie ihn der Sturm zuweilen in einer einzigen Nacht in den Bergen aufwühlt. Trotzdem kam eine gewisse Resignation über sie. Wie eine Reliquie verwahrte sie ihr schönes Ballkleid in ihrem Schranke, sogar die Atlasschuhe, deren Sohlen vom Parkettwachs eine bräunliche Politur bekommen hatten. Emmas Herz ging es wie ihnen. Bei der Berührung mit dem Reichtum war etwas daran haften geblieben für immerdar.
An den Ball zurückdenken, wurde für Emma eine besondre Beschäftigung. An jedem Mittwoche wachte sie mit dem Gedanken auf: „Ach, heute vor acht Tagen war es!“ – „Heute vor vierzehn Tagen war es!“ – „Heute vor drei Wochen war es!“ Allmählich aber verschwammen in ihrem Gedächtnisse die einzelnen Gesichter, die sie im Schlosse gesehen hatte. Die Melodien der Tänze entfielen ihr. Sie vergaß, wie die Gemächer und die Livreen ausgesehen hatten. Immer mehr schwanden ihr die Einzelheiten, aber ihre Sehnsucht blieb zurück.
Neuntes Kapitel
Oft, wenn Karl unterwegs war, holte Emma die grünseidene Zigarrentasche aus dem Schrank, wo sie unter gefalteter Wäsche verborgen lag. Sie betrachtete sie, öffnete sie und sog sogar den Duft ihres Futters ein, das nach Lavendel und Tabak roch. Wem mochte sie gehört haben? Dem Vicomte? Vielleicht war es ein Geschenk seiner Geliebten. Gewiß hatte sie die Stickerei auf einem kleinen Rahmen von Polisanderholz angefertigt, ganz heimlich, in vielen, vielen Stunden, und die weichen Locken der träumerischen Arbeiterin hatten die Seide gestreift. Ein Hauch von Liebe wehte aus den Stichen hervor. Mir jedem Faden war eine Hoffnung oder eine Erinnerung eingestickt worden, und alle diese kleinen Seidenkreuzchen waren das Denkmal einer langen stummen Leidenschaft. Und dann, eines Morgens, hatte der Vicomte die Tasche mitgenommen. Wovon hatten die beiden wohl geplaudert, als sie noch auf dem breiten Simse des Kamines zwischen Blumenvasen und Stutzuhren aus den Zeiten der Pompadour lag?
Jetzt war der Vicomte wohl in Paris. Weit weg von ihr und von Tostes! Wie mochte dieses Paris sein? Welch geheimnisvoller Name! Paris! Sie flüsterte das Wort immer wieder vor sich hin. Es machte ihr Vergnügen. Es raunte ihr durch die Ohren wie der Klang einer großen Kirchenglocke. Es flammte ihr in die Augen, wo es auch stand, selbst von den Etiketten ihrer Pomadenbüchsen.
Nachts, wenn die Seefischhändler unten auf der Straße vorbeifuhren mit ihren Karren und die „Majorlaine“ sangen, ward sie wach. Sie lauschte dem Rasseln der Räder, bis die Wagen aus dem Dorfe hinaus waren und es wieder still wurde.
„Morgen sind sie in Paris!“ seufzte die Einsame. Und in ihren Gedanken folgte sie den Fahrzeugen über Berg und Tal, durch Dörfer und Städte, immer die große Straße hin in der lichten Sternennacht. Aber weiter weg gab es ein verschwommenes Ziel, wo ihre Träume versagten. Sie kaufte sich einen Plan von Paris und machte mit dem Fingernagel lange Wanderungen durch die Weltstadt. Sie lief auf den Boulevards hin, blieb an jeder Straßenecke stehen, an jedem Hause, das im Stadtplan eingezeichnet war. Wenn ihr die Augen schließlich müde wurden, schloß sie die Lider, und dann sah sie im Dunkeln, wie die Flammen der Laternen im Winde flackerten