»Das ist noch gut gegangen – Teufel auch! heute glaubt' ich, kriegt' ich's dick. Er sieht aber auch alles, der Kujon – na, warte, du sollst mich nicht wieder erwischen, mein Schatz, denn fort möcht' ich mich doch auch nicht aus dem bequemen Platz hier jagen lassen.«
Georg ging in das Zimmer seiner Frau und fand diese mit geröteten Wangen und raschen Schritten, die Arme fest verschränkt, auf und ab gehen. Bei seinem Eintritt blieb sie stehen und sah ihren Gatten finster an.
»Was hast du?« sagte dieser ruhig, die Bewegung der Frau konnte ihm nicht entgehen.
»Was ich habe, Georg,« rief Georgine, die diesen Augenblick ersehnt hatte, indem sie nach dem Herzen griff, »einen Schmerz hier, einen bittern, nagenden Schmerz, der mir nicht Rast noch Ruhe läßt.«
»Das alte Leiden?« sagte Georg düster, indem er seinen Hut auf den Tisch warf.
»Ja und nein,« lautete die Antwort, »du selber hast es heute heraufgezwungen!«
»Ich? – wieso?«
»Daß du den Knaben gemißhandelt, weil er in fröhlicher Jugendlaune einen Augenblick vergaß, welch freie schöne Kunst er einst ausgeübt hatte und jetzt nicht mehr ausüben sollte. Glaubst du nicht, daß wir den Zwang doppelt fühlen, wenn er auf so rohe Weise in Kraft gehalten wird? Glaubst du nicht, daß der Stab, der sich bis jetzt nur gebogen, wenn er zu straff angespannt wird, auch brechen könnte?«
»Wenn er das Biegen nicht vertragen kann, mag er brechen,« erwiderte mit tiefer, fester Stimme der Mann.
»Georg!«
»Höre mich,« fuhr ihr Gatte fort, »denn ich zweifle sehr, daß du den ganzen Umfang des heutigen Vergehens weißt. Karl hat nicht allein gefehlt, das hätte ich vielleicht verziehen, da er sich bis jetzt gut gehalten, aber Vater selber, wahrscheinlich wieder vom starken Trunke erregt, vergaß sich so weit, daß er mitten im Dorfe, von der ganzen Schule umgeben, seine alten Künste ausübte und sich in der Luft überschlug. Den Jubel, den das von dem alten, bisher so gesetzten Manne erregte, kannst du dir denken. Ich kam zum Glück zufälligerweise dazu und verhinderte weiteren Unfug. Soll ich mein Ansehen, mein ganzes künftiges Lebensglück, wie das meines Kindes, auf solche ekelhafte Art gefährdet und untergraben sehen? Georgine, du weißt, wie lieb ich dich und euch alle habe, aber du kennst mich auch; du weißt, daß ich Begonnenes auch durchführe, daß, wo ich einmal meinen Willen eingesetzt, ich auch die Kraft besitze, da zu handeln; deshalb warne deine Angehörigen. Noch ein solches Vergehen, und die Bande, die mich bis jetzt an sie fesseln, sind unerbittlich, unwiderruflich gelöst.«
»Meine Angehörigen? und sind es nicht die deinen auch?« fragte Georgine scharf.
»Sie sollen es bleiben, solange sie meinen Anordnungen folgen – nicht einen Augenblick länger.«
»Anordnungen? – sage lieber Befehlen.«
»So nenne es denn Befehle, wenn du willst.«
»Ich weiß es wohl,« zürnte die Frau, »du hast kein Herz für uns. Solange wir dir Nutzen brachten, waren wir dir gut, doch jetzt, wo…«
»Halt ein, Georgine,« unterbrach sie ernst der Mann, »das ist ein harter, böser Vorwurf, der nicht aus deinem Herzen kam. Du bist aber jetzt, wenn auch völlig grundlos, gereizt, und wir wollen nicht weiter darüber rechten. Ich habe deinen Vater freundlich ermahnt, an uns sowohl, wie an sich selbst zu denken; ich hoffe, das wird für ihn genügen. Karl hat gleich an Ort und Stelle seine Strafe bekommen, und die Sache ist also abgemacht. Willst du selber noch einmal mit ihnen darüber sprechen, so gehe erst mit deiner Vernunft zu Rate, die wird dich den richtigen Weg schon leiten.« Und ohne weiter eine Antwort abzuwarten, verließ er das Zimmer, bestieg unten im Hofe sein schon bereit gehaltenes Pferd und sprengte in den Wald hinaus.
Georgine blieb, wie er sie verlassen, im Zimmer stehen und sah ihm düster nach. Der ungebeugte Charakter des bisher so selbständigen, verwöhnten Weibes konnte sich dem Zwange noch nicht fügen, der es hier von allen Seiten hemmend umgab. Wohl tauchten wieder jene Gedanken, ihn abzuschütteln, in ihr auf, aber wieder und wieder hielt sie der Gedanke an Josefine zurück, die das verhaßte Gesetz ihren Händen entzog, das Schicksal des Kindes in die Hände des Vaters legend. Allerdings hatte sie schon in ***, ehe sie dem Willen des Gatten nachgab, alles versucht, sich Recht in ihrem Sinne zu verschaffen. Sie selber war zu den besten Advokaten der Stadt gegangen, ihren Beistand in dieser Sache zu erfragen und für sich zu sichern. Sie alle aber hatten ihr einfach das in diesem Falle wirklich einmal nicht anders zu deutende Gesetz vorgelegt, das keinen Ausweg offen ließ: Bis zum siebenten Jahre blieb, bei einer Scheidung der Gatten, das Kind der Mutter, damit diese über das zarte Alter desselben wachen konnte; nach dem siebenten Jahre aber wurde es dem Vater, als seinem eigentlichen Erhalter und Ernährer, anvertraut, und es hätte der Beweise bedurft, daß dieser dessen Erziehung nicht leiten und bestreiten konnte, um es zugunsten der Mutter umzuändern – Beweise, die sie in diesem Falle unmöglich bringen konnte. Sie sah sich deshalb gezwungen, nachzugeben – nachzugeben vielleicht zum erstenmal in ihrem ganzen Leben, und das vergaß sie deshalb schon dem Gatten nie.
Georg sprengte indessen in den Wald, das Herz voll von trüben, drückenden Gedanken; denn nie mehr, als gerade in diesem Augenblick, fühlte es die Last, die mit den Ueberresten seines früheren Lebens hereinragte in sein jetziges edleres Sein. Wie war es möglich, daß er den alten Mann, den er verachtete, von sich abschütteln konnte, ohne Georginen im tiefsten Herzen zu verwunden – und tat er es nicht, wer bürgte ihm dafür, daß nicht bei nächster Gelegenheit der Mensch, der nun einmal zur Hefe des Volkes gehörte, seine eigene Stellung im neuen bürgerlichen Leben durch irgend einen tollen Streich untergraben, ja, rettungslos zerstören könne? – Und was dann? Hatte er nicht die Pein seiner früheren Existenz kennen gelernt? War nicht der Schleier von seinen Augen gefallen, durch den geblendet er jenen wilden, zügellosen Stand nur stets im rosigsten und schönsten Lichte gesehen? Dahin konnte er nicht zurückkehren, ohne, wie er recht gut fühlte, geistig und moralisch zugrunde zu gehen, und machte es ihm hier die Verbindung mit jenen alten Ketten, in der er durch den früheren Possenreißer seiner Bande gehalten wurde, nicht doch am Ende auch noch unmöglich, seinem Ziele fest und unverzagt entgegen zu streben?
Er fühlte selber nicht, wie der Rappe, von Schenkeldruck und Sporn getrieben, in sausendem Galopp mit ihm die Straße entlang flog. Der Wind aber kühlte seine heißen Schläfen, die rasche, kräftige Bewegung tat ihm wohl, und seinem feurigen Tier die Zügel lassend, sprengte er mit ihm, dem nächsten breiten Holzwege folgend, gerade in den Wald hinein. Hier aber mäßigte der Rappe selber seinen Schritt; der Weg war rauh und hart gefroren, und die zarten Hufe des edlen Tieres nicht an solche Bahn gewöhnt. Und als auch hierin der Reiter ihm volle Freiheit ließ, blieb es endlich schnaubend und mit dem schönen Kopf auf- und niederfahrend auf einer Waldblöße stehen, wo ein Jäger, die Flinte vor sich auf den Knien, auf einem gefällten Baume saß und jetzt erst, als er den Nahenden erkannte, aufstand, ihn achtungsvoll zu begrüßen.
Er war der alte Forstwart Barthold, und Georgs Blick haftete unwillkürlich lange und mit einem eigenen Interesse auf den gefurchten eisernen Zügen des Greises, um dessen Schläfe der kalte Nordwind die von den Jahren zu Schnee gebleichten Locken jagte.
»Setzt auf, Alter, setzt auf,« sagte er endlich hastig, als sein Geist zu den Gegenständen um ihn her zurückkehrte, »das ist kein Wetter, mit entblößtem Kopfe zu stehen, und noch dazu in Euren Jahren!« Der Alte neigte sich leise und gehorchte dem Befehl.
»Und was macht Ihr hier?« fuhr Georg fort, indem er abstieg, den Nacken seines Tieres klopfte und ihm dann den Zügel auf den Sattel legte, »kommt, geht mit mir ein Stück durch den Wald; mein Pferd ist etwas warm geworden, und ich möchte es nicht still stehen lassen.«
»Ich hab' hier in der Gegend ein Eisen für eine wilde Katze gestellt,« erwiderte