Der Kunstreiter, 2. Band
»Wirt, mir noch einen Schnaps,« sagte Tobias, »der Waldläufer holt mir zu weit und moralisch aus.«
»Mir auch noch einen!« rief Mühler, den der Bursche mit seinem Ernst zu amüsieren anfing. Barthold nahm keine Notiz von der Unterbrechung.
»Siehst du,« fuhr er fort, »wenn du einen einzelnen Baum da draußen stehen siehst, so denkst du wohl – wenn du überhaupt je etwas dächtest – das sei ein lebloses, totes Ding, was da steht, und allerdings kann sich's nicht von der Stelle bewegen, es muß am Boden haften, wo unser Herrgott es hingepflanzt hat. Aber in ihm lebt's und wirkt und schafft und treibt und wächst, reckt die Arme nach dem Himmel empor, von dort her Licht und Regen zu saugen, und hält sich mit den Wurzeln derb im Boden fest, um vom Winde nur gerüttelt, aber nicht geworfen zu werden. Mehr im Leben tut auch nicht einmal der Mensch, nur auf ein wenig andere, sogar nicht immer so erfolgreiche Art. Der Baum ist aber nicht tot, er lebt – er lebt und atmet, wie ein jedes Tier, wenn sich ihm auch die Brust dabei nicht heben kann; aber durch seine Poren zieht der Lebenssaft, zieht Luft und Feuchtigkeit, was er zum Leben braucht, und wird ihm das genommen, muß er sterben. Nimm nur die Axt und hau' in einen Stamm hinein, und sieh, ob er nicht blutet, wenn auch sein Blut nicht rot aussieht wie das unsere. Langsam tropft es zu Boden, und wenn die Wunde ausgeblutet hat, vernarbt sie wieder, wie bei dem Menschen. Sieh nur einen gefällten Baum dir an, aber nicht, wie es die meisten Menschen tun, die bei einem solchen Baume immer gleich berechnen, wie viel Klaftern Scheite oder wie viel Ellen Nutzholz er geben kann. Sieh ihn an, wie er als Leiche daliegt, denn es gibt ebensogut Baum- wie Menschenleichen – sieh, wie die Rinde abstirbt, ihre gesunde, frische Farbe verliert und fahl und erdfarben wird, und die Blätter welken und dorren, die Zweige eintrocknen – und langsam geht er zur Erde zurück, von der er kam, wie der Mensch, anderen, seinesgleichen, Raum zu geben. Und das ist nur der einzelne Baum, nun aber seht die Masse, seht den Wald, wo einer dem andern die Hand hinüberreicht; seht ihn, wenn er sich abends die Sternendecke über den Kopf zieht und duftet und träumt, und leise rauschend der Atem des Herrn durch seine Wipfel fährt; seht ihn, wenn er morgens erwacht, mit rosig verklärtem Gesicht der Sonne entgegenlächelt, und all die tausend Sänger hegt und pflegt, die mit der Morgensonne dem Allerhalter ihre Danklieder entgegenwirbeln – seht ihn am Tage, wie er die Arme schützend über die Erde breitet, den heißen Sonnenstrahlen zu wehren, seine Quellen am liebsten Kinder, die Blumen, zu erreichen und auszutrocknen; seht ihn, wie ihm am Abend spät der helle Schweiß von der vielen Anstrengung an der Stirn steht und in Millionen Tropfen von den Blättern funkelt. Seht ihn im Sommer in seiner Kleiderpracht, im Winter, wenn er sich fest eingehüllt hat in seine warmen Schneetücher – seht ihn, wenn ihr wollt, aber er bleibt immer schön und groß und hehr, ein Tempel des Herrn, den er sich selber auferbaut.«
Barthold hätte sich für seine schwärmerischen Gedanken keine unglückseligeren und unpassenden Zuhörer wählen können, und wenn er ein Jahr danach gesucht hätte, als eben die beiden alten Burschen mit dem Wirt zu Kauf, der mit offenem Munde hinter ihm stand. Auf Tobias' Gesicht lag, solange der alte Mann sprach, ein breites Grinsen, und die rotgeränderten feuchten Augen zwinkerten nur manchmal mit einem verschmitzt sein sollenden Lächeln nach dem »Schwiegervater« hinüber. Mühler seinerseits saß mit fast bis in die Haare hinaufgezogenen Augenbrauen, die Stuhllehne zwischen den Knien und beide Ellbogen darauf gelehnt, dicht vor dem alten Forstwart, und über sein Gesicht zuckte und zerrte es dabei so wunderbar, daß Tobias zuletzt gar nicht mehr auf die Worte hörte, sondern nur ganz erstaunt in die wunderbar veränderliche Physiognomie des »Schwiegervaters« schaute.
»Bravo!« sagte dieser mit seiner heisern Stimme, als Barthold jetzt geendet und wie verklärt durch das Fenster nach seinem lieben Walde hinüberschaute, »bravo, alter Junge, vortrefflich – der Pastor hätt's nicht besser machen können! – Wirt, noch mehr Kümmel, für uns alle, nicht in so kleinen spitzen Gläsern, sondern die ganze Flasche, wir schenken uns selber ein und machen Kreidestriche.«
»Ich danke Ihnen,« sagte der Forstwart ruhig, »ich trinke höchstens morgens ein einziges Glas.«
»Auf einem Beine kann kein Mensch stehen!« rief Tobias.
»Gott sei Dank, daß ich den Branntwein noch nicht brauche, um darauf zu stehen,« meinte der alte Forstwart, »ein nüchterner Kopf und ein volles Herz ist mein Wahlspruch, und – andere Leute führen vielleicht besser, wenn es auch der ihrige wäre. Das aber ist anderer Leute Sache und geht mich nichts an – und nun guten Morgen mitsammen. Ich denke, Tobias, meine Rede hat mir bei dir nicht viel geholfen, und du wirst nach wie vor doch lieber in das Wirtshaus als in den Wald gehen. Du hast aber auch recht, du paßt nicht hinein, und ein Baum sähe gewiß nicht besser aus, wenn du darunter in seinem Schatten lägst. Gott zum Gruß – ich muß wieder hinaus!« Mit den Worten zahlte er dem Wirt sein Glas Branntwein und verließ, still wie er gekommen, die Stube.
»Bei dem rappelt's wohl?« lachte Mühler, als Barthold die Tür hinter sich zugezogen hatte.
»Ein bißchen, ja,« bestätigte der Wirt, »aber er ist ganz harmlos und tut keinem Menschen was. Nur im Walde darf man ihm nicht begegnen, und abends möchte ich da drin nicht um alles in der Welt mit ihm zusammenstoßen.«
»Beißt er?« meinte Mühler trocken.
»Nun, er beißt wohl gerade nicht,« erwiderte der Wirt, »aber daß er allerlei faule Kunststücke kann, ist gewiß. Hier spricht er immer vom lieben Gott, aber da draußen da schwatzt er mit den Bäumen und den Vögeln, ruft die wilden Tiere, sucht geheimnisvolle Wurzeln und treibt allerlei heidnischen Unsinn, wie es hier früher soll Sitte gewesen sein. Im Walde drin steht auch noch eine alte Eiche – kein Mensch weiß, wie alt sie ist – mit einem steinernen Altar darunter, auf dem in alten Zeiten die Heiden ihren Abgöttern Menschen geschlachtet haben. Dort ist er am liebsten, und da treibt er auch nicht selten um Mitternacht seinen Spuk mit bösen Geistern, was eigentlich gar nicht geduldet werden sollte.«
»Ach was!« sagte Tobias, der indessen mit Mühler wacker der Flasche zugesprochen hatte, »er schadet doch keinem Menschen damit, und wenn man ihn zufrieden läßt, ist er gut genug; nur manchmal ein bißchen grob.«
»Wie viel Uhr schlägt das?« sagte Mühler aufhorchend.
»Eben elf – Zeit genug zum Mittagessen.«
»Ja, aber ich muß fort,« meinte der Alte, »will meinen Jungen gleich aus der Schule mit nach Hause nehmen. – Hier, Wirt, meine Zeche, – zwei Glas Bier und ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Schnäpse – gerade sieben – seht Ihr, hier sind die Striche – famoses Zeug, der Kümmel – hahahaha, den alten Forstwart müssen wir uns einmal wieder hierher einladen; das ist ein kreuzkurioser Kerl. – Guten Morgen, Tobias, guten Morgen, Sternenwirt – der Kümmel soll leben!« Und seinen Hut gegen die Decke werfend, daß er ihm zurück gerade wieder auf den Kopf fiel, nickte er den beiden, darüber nicht wenig erstaunten Männern huldreich zu und verließ mit steifen Schritten die Wirtsstube.
14
Die Schule war gerade aus, und die Knaben und Mädchen, froh, der engen Stube entronnen zu sein, tummelten sich lustig draußen herum. In der Tür des Schulhauses aber stand der Lehrer und zog mit voller Brust, nach drei Stunden dunstiger, erdrückender Schulstubenatmosphäre, die kalte, frische Luft ein, die von dem See herüberstrich. Die Kleinen, die sich noch etwas im Zimmer aufgehalten hatten, drückten sich scheu und grüßend an ihm vorüber, bogen dann um die Ecke, warfen noch einen Blick zurück, ob er sie nicht mehr sehen könne, und sprangen dann jauchzend den Gefährten nach. Es war Samstag und heute nachmittag keine Schule weiter, und die kleinen Kerle wußten das zu würdigen und zu genießen.
Es ist aber doch die Frage, wer sich mehr darüber freute – der Lehrer oder die Schüler – wenn der erstere auch keine Luftsprünge machte, sondern ernst, mit dem bleichen, abgemagerten Gesicht nach den leichten Wolken hinaufschaute, die oben am Himmel ihre freie, luftige Bahn zogen. Auge und Atemzug drängte dem Weiten entgegen, und wie gern, wie froh wäre der Körper ihnen gefolgt! Der aber war gebannt, gefesselt an den engen Raum, an seine Klasse, an der Schüler Schar, und wenn er auch nur wenig, erstaunlich wenig Lohn dafür bekam, die wenigen Taler brauchte er eben zum Leben und konnte sie nicht entbehren: denn leben wollen wir ja alle, obgleich viele Leute das auch noch leben nennen, was eigentlich existieren heißt.
Heute war Samstagnachmittag, und anderthalb Tage – wenn auch nur kurze Wintertage – freie Zeit lag vor ihm, in denen