»Also den Strom hinab.«
»Was meinst du, wie lange brauchen wir bis Santa Fé?«
»Schätze, drei bis vier Stunden.«
»Ausgezeichnet.«
»Aber die Frau und das Kind?«
»Die Tote müssen wir natürlich hier lassen«, sagte Juan, »das Kind nehmen wir mit. Wir werden ja erfahren, wer Mutter und Kind sind.«
»Ich will noch einmal nach ihnen sehen.« Pati beugte sich nieder; der Himmel hatte sich aufgehellt; einige Sterne wurden sichtbar. Pati sah: es war eine junge, schöne Frau, die dort lag. An ihrem Hals und an ihren Händen blitzte etwas. Sorgfältig löste er ein Medaillon von ihrem Nacken und einige Ringe von ihrer Hand. Er reichte Juan den Schmuck. »Bewahre das«, sagte er, »es gehört dem Kind.« Don Juan öffnete den kleinen Lederbeutel, den er auf der Brust trug, und verwahrte die Sachen. Nicht ohne Mühe befreite Pati das ruhig atmende Kind aus dem starren Arm der toten Mutter, wickelte es in seinen Poncho und übergab es dem Gaucho, der es sanft in seinem eigenen Boot bettete, wo es ruhig weiterschlief. Pati schnitt mit seinem Messer Schilfbündel ab und bedeckte mit ihnen den Leichnam. Beide Männer zogen die Hüte und sprachen ein kurzes Gebet. Dann trieben sie das Boot mit der Frau auf den Strom hinaus, der still und gleichmäßig seine Fluten nach Süden trug.
Gleich darauf griff Pati zum Ruder; unter seinen gleichmäßigen Schlägen glitt das leichte Kanu den Fluß hinab. Einige Stunden später nahte es sich bereits Santa Fé. »Wollen wir das Kind nicht hier lassen?« fragte Pati. »Was wollen wir damit anfangen?«
»Es hier lassen, hieße, es seinem Verderben überliefern«, entgegnete Don Juan. »Es ist ja kein Zweifel, daß es diesem würdigen Don Francisco – ich habe mir den Namen und auch die Erscheinung gemerkt – hauptsächlich darauf ankam, die Kinder der getöteten Frau in seine Gewalt zu bringen. Glaube mir, Pati, hier sind finstere Kräfte am Werk; es dürfte gefährlich sein, sich damit anzulegen. Noch immer herrscht Bürgerkrieg, und man weiß nicht, wer Freund und Feind ist, außer in der Schlacht.«
»Nun, wir werden jedenfalls erfahren, wo der Überfall ausgeführt worden ist und durch wen«, sagte Pati.
»Das erste vielleicht«, entgegnete Juan, »das zweite – wer weiß! Von Santa Fé aus kennst du die Ufer?« »Wie meine Tasche.«
»Dann suche südwärts der Stadt am rechten Ufer noch vor Tagesanbruch ein sicheres Plätzchen aus.«
»Werd‘ es schon finden.«
»Wenn du irgendeinen verläßlichen Freund in der Nähe hättest – «, überlegte Juan.
»Ich weiß nicht«, sagte Pati, »früher wohnte da in der Gegend ein alter Freund meiner Pflegeeltern, ein Neger, Pedro Mendoza; für dessen Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit könnte ich bürgen. Ob er aber noch hier wohnt, ja, ob er überhaupt noch am Leben ist, weiß ich nicht.«
»Wir wollen jedenfalls nachsehen«, sagte Don Juan. »Vielleicht erfahren wir dort schon einiges, was uns interessiert.«
Sie fuhren an Santa Fé vorüber, ohne bisher einem anderen Fahrzeug begegnet zu sein. Als der Tag graute, hielt sich Pati dicht am rechten Ufer und bog nach genauer Umschau schließlich in einen Bach ein. Schon nach kurzer Zeit gewahrten sie einige Kanus, dahinter am Ufer eine kleine, von einem Garten umgebene Hütte. Pati stieg aus, ging an eines der niedrigen Fenster und pochte leise. Die Tür öffnete sich, und ein alter Neger trat in ihren Rahmen, Juan sah vom Boot aus, wie beide Männer sich umarmten. Gott sei Dank! dachte er.
Es war wirklich der alte Pedro; er hieß auch Juan wortreich willkommen; der trug das Kind, das leise weinte, in das Haus. Es war ein etwa einjähriger Junge. Pedros Frau, die herbeigeeilt war, schlug vor Staunen die Hände zusammen, gleich darauf nahm sie das kleine Geschöpf in mütterliche Obhut.
Auf Don Juans Rat hatte Pati dem Neger nur das Notwendigste mitgeteilt. Sie hätten nach beendetem Feldzug das Heer verlassen und unweit Santa Fé auf dem Strom treibend ein Boot mit einer toten jungen Frau und dem kleinen Jungen gefunden, hatte er gesagt.
Sie könnten sich selbstverständlich einstweilen in seiner Hütte verborgen halten, sagte Pedro. Er selbst begab sich unverzüglich in seinem Segelboot nach Santa Fé, um dort vorsichtig nach Ereignissen zu forschen, welche die Abtrift eines Bootes mit einer toten Frau und einem lebenden Kind zur Folge gehabt haben könnten. Er verließ sich dabei vor allem auf seine schwarzen Stammesgenossen.
Erst spät in der Nacht kehrte der Alte zurück. Er brachte überraschende Nachricht, von Entre Rios aus sei eine starke Schar Unitarier unter General Las Palinas über den Strom gesetzt, die Estanzia nach Estanzia zerstöre und in Eilmärschen auf Santa Fé zurücke, wo man sich bereits zur Verteidigung anschicke. Es sei in aller Eile nach Buenos Aires um Hilfe gesandt und die Landbewohner seien zum Kampf aufgerufen worden. Über eine ermordete Frau und deren Kind hatte er nichts erfahren können.
Don Juan hörte sich diesen Bericht an, dann sagte er nach einigem Nachdenken: »Besorge mir ein gutes Pferd, Pedro, oder sage mir, wo eines zu finden ist. Morgen früh reite ich.«
»Nimm zwei Pferde, Pedro«, sagte Pati, »ich reite mit.«
Aber das Kind! Was sollte mit dem Kind geschehen?
Das Kind wolle sie behalten, erklärte die alte Negerin, sie wolle es pflegen, als ob es ihr eigenes sei.
»Gut, Señora«, sagte Don Juan, »bewahre mir den Jungen. Laß ihn von keinem Menschen sehen, sprich nicht von ihm, denn es ist kein Zweifel, daß ihm sehr mächtige Leute nach dem Leben trachten. Gott wird es dir dereinst und ich werde es dir noch hier auf Erden lohnen, wenn ich kann.« Sie würden das Kind wie ihren Augapfel hüten und kein Wort über seine Existenz verlauten lassen, versprachen die beiden Alten.
Noch im Laufe der Nacht ruderte Pedro die beiden Männer mit ihren Sätteln, mit Zaumzeug und Waffen, einige Leguas weit den ihm wohlbekannten Bach hinauf; vor Morgengrauen setzte er sie an Land. Wie es Juan vorhergesagt, weideten dort zahlreiche Pferde. Der Lasso des Gauchos brachte bald zwei Tiere in seine Gewalt, und Minuten später galoppierten er und Pati bereits der Pampa entgegen.
Bellavista
Nördlich der Stadt Santa Fé, in dem Staat oder der Provinz gleichen Namens, lagen die Besitzungen Don Francisco de Salis‘. Sie erstreckten sich weithin am Parana und tief in das Land hinein. Der Señor de Salis gebot über große Strecken hochkultivierten Landes, das Mais, Weizen, Tabak und andere Früchte in reicher Fülle erzeugte. Er besaß ausgedehnte Wälder, die wertvolle Hölzer lieferten, und ungezählte Herden von Pferden und Rindern, die in der Pampa weideten. Er war weithin als kluger und harter Mann bekannt, der reiche Einnahmen aus seinen Ländereien herauswirtschaftete.
Don Francisco war aber nicht nur ein sehr reicher, er war auch ein außerordentlich mächtiger Mann im Staat Santa Fé, und dies nicht nur wegen seines großen Vermögens, sondern vor allem durch die Gunst des mächtigen Mannes in Buenos Aires, der das Land und die Menschen mit unerbittlicher Hand nach seinem Willen lenkte.
Die Provinzen Buenos Aires, Entre Rios, Santa Fé und Corrientes befanden sich fest in der Hand des Diktators, während ihm die entfernteren Landesteile durchaus nicht immer botmäßig waren, ja sich nicht selten gegen ihn und seine Gewaltherrschaft auflehnten, in der Regel freilich nicht zu ihrem Vorteil.
Francisco de Salis entstammte einer altspanischen Familie, die schon unter dem Adelantado Martinez de Irala im Jahre 1556 ins Land gekommen war; er war außerordentlich stolz auf diese Abkunft und gehörte zu den ergebensten Anhängern de Rosas. Die Estancia Bellavista, de Salis‘ Landgut, war ein ungemein stattlicher Besitz. Das schloßartige, mit Seitenflügeln versehene Hauptgebäude, das teilweise erst vor kurzer Zeit erneuert zu sein schien, zog sich, von dichten Gärten und parkartigen Anlagen umgeben, dicht am Parana hin, dessen Ufer hier eine weite Ausbuchtung aufwiesen; die weitere Umgebung zeigte zahlreiche zerstreut liegende Wirtschaftsgebäude und Landarbeiterwohnungen.
An einem schönen Frühlingstag, etwa zwei Jahre nach den soeben geschilderten