Die Angerufenen hoben gleichzeitig die Riemen aus den Dollen, legten sie an Bord nieder, gingen nach hinten, und gleich darauf lag der triefende Körper des Bewußtlosen neben dem Mann im Stern des Bootes.
Da die bewegte See die ganze Aufmerksamkeit des Steuermanns wie die volle Kraft der Ruderer erforderte, ergriffen diese sofort wieder ihre Riemen, und unbeachtet lag der den Wellen entrissene Jüngling da.
Nach einer halben Stunde schwerer Arbeit näherte sich das Boot dem Barkschiff, welches eine Laterne gesetzt hatte. Im Lee des Schiffes, welches sich nur über einem Buganker schaukelte, auf verhältnismäßig ruhigem Wasser angelangt, ward ihnen von Bord ein Tau zugeworfen, sie holten an, und der Steuermann stieg an dem aushängenden Fallreepan Deck.
Dort stand der Kapitän im schwachen Schein der am Großmast befestigten Laterne.
»Lange geblieben, Stürmann«, sagte er, als jener auf ihn zutrat.
»War nich früher möglich, Kaptein.«
»Hewwen Se allens?«
»Ja, Kaptein, un noch en Stück Ballast dartau.«
»Wie is dat?«
Der Steuermann berichtete kurz, was ihm soeben begegnet war. Auch hoben die Matrosen schon den Körper des jungen Menschen über die Bordwand und ließen ihn sanft auf einem Stück Segeltuch im Schein der Laterne nieder. Während das Boot gehißt wurde, trat der Kapitän zu dem Bewußtlosen heran.
»Aber der ist ja tot, Steuermann.«
»Ich glaube nicht, Kapitän. Freilich habe ich mich auf der Fahrt nicht um ihn bekümmern können, aber er hatte kaum eine Minute im Wasser gelegen, als er an mich antrieb.«
Der Kapitän, der Steuermann und einige Matrosen sahen auf die jugendliche, schlanke Gestalt, die leblos vor ihnen lag. Das feine, wollene Hemd, der gestickte Gürtel, die eleganten Beinkleider deuteten an, daß der Träger dieser Kleidungsstücke einer wohlhabenden Familie angehören müsse. Um das bleiche Gesicht von weichen, edeln Formen hing das feuchte Haar nieder, die Augen waren geschlossen. Der Junge lag da, als ob er schliefe. Rasch hatte ihm der Steuermann das Hemd geöffnet und sein Ohr an die Brust des Bewußtlosen gelegt.
»Der Mann lebt, das Herz schlägt, Kapitän«, sagte er aufstehend, »ich denke, er hat den Giekbaum der Jacht an den Schädel bekommen.«
»Diese Landlubbers sollen auf ihren Fischteichen bleiben«, brummte der Kapitän, »aber wat helpt dat nau – der Junge ist sicher guter Leute Kind. Lassen Sie ihn in die Koje bringen, abreiben und gut zudecken, Steuermann, wollen sehen, was daraus wird.«
Während zwei Matrosen den Körper hinabtrugen, wurde der Anker gelichtet, Leinwand gesetzt, und bald schaukelte die Hamburger Bark »Roland« auf den kurzen Wellen der Nordsee, Henrik Horsa, der warm zugedeckt in einer Koje ruhte und durch sein Atmen bewies, daß noch Leben in ihm weilte, mit sich hinausführend in das weite Meer.
Kapitän Jansen war, als er an Kuxhaven vorbeiging, durch eine ihm übermittelte Depesche seiner Reeder bedeutet worden, daß er noch ein wichtiges Schriftstück zu erwarten habe. Da er im Strom nicht beilegen wollte, hatte er seinen Steuermann an Land geschickt und, dessen Rückkehr abwartend, bei Neuwerk einen Anker fallen lassen. Dies war die Veranlassung, daß das Boot zu jener Stunde dem Schiff nacheilte.
Während der Nacht sprang der Wind um und blies scharf aus West. Da mit dieser Brise der Kanal nicht zu passieren war, hielt der Kapitän nach Norden zu, um seinen Weg in den Ozean um Schottlands Küste zu suchen.
Der junge Mensch lag immer noch bewußtlos in seiner Koje. Eine genauere Untersuchung hatte ergeben, daß er einen heftigen Schlag gegen den Kopf bekommen hatte, dessen linke Seite stark mit Blut unterlaufen war. Die Betäubung war also allem Anschein nach die Folge einer Gehirnerschütterung. Herz und Puls schlugen normal. Der Kapitän hatte beabsichtigt, den jungen Hamburger einem ihm im Kanal begegnenden heimischen Schiff zu übergeben, um ihn zurückführen zu lassen, doch der ihm durch den Westwind aufgezwungene Nordkurs vereitelte jedes Zusammentreffen mit einem nach Deutschland bestimmten Schiff. Der »Roland« trat in den Ozean nordwärts der Orkneyinseln, ohne daß ihnen ein Fahrzeug begegnet wäre, und der auf so ungewöhnliche Weise an Bord gekommene Passagier lag immer noch, ohne zur Besinnung gekommen zu sein, auf seinem Lager.
Drei Monate waren fast vergangen seit dem Tag, der die Unglücksbotschaft in das Haus Frau Horsas brachte, als der Senator im schnellsten Galopp, welchen seine feisten Mecklenburger fähig waren, zum Erstaunen ganz Blankeneses die Straße herunterjagte und vor der wohlbekannten Gartentür hielt. Der alte Herr stieg so rasch aus, daß er fast gefallen wäre, und erschreckt eilte ihm seine Schwester entgegen. Der Senator schwenkte ein Telegramm in der Rechten und schrie nur so: »De Jong lewt, Stinning. De Jong lewt. He is all reddet, der leiwe God deit immer noch Wunners. De Jong lewt, Stinning.«
Und der Herr Senator faßte seine Schwester um die Taille und küßte sie auf die Wange und wollte sich dann mit ihr im Tanz schwenken.
Dürten ward durch den Lärm aus dem Haus gelockt und sah mit großer Verwunderung auf das seltsame Gebaren des Herrn Senators.
Frau Horsa war zwar sehr blaß geworden, doch nicht in Ohnmacht gefallen, aber eines Wortes war sie nicht mächtig, zu gewaltig stürmte das Unerwartete, das Ungehoffte, das unendliche Glück auf sie ein. Der Senator aber schrie wieder: »Dürten, hei lewt – de Henrik lewt!«
»Heww ick dat nich immer seggt?« versetzte Dürten nun mit dem ganzen Stolz einer Prophetin, deren Vorhersagungen eingetroffen sind, und die helle Freude strahlte aus dem derben, ehrlichen Gesicht.
»Heww ick dat nich immer seggt, Madam? Ick heww Henrik im Droom in'n swarten Sarg liggen sehn, un dat bedüt all immer langes Lewen.«
Rasch wurden der Mutter einige Erklärungen gegeben über die einem Wunder gleichende Rettung ihres Sohnes durch den »Roland«. Wer ein fühlendes Herz hat, kann sich die tiefe innere Freude der drei Menschen in dem kleinen Häuschen am Ende von Blankenese ausmalen. Und als gar Karl Holthaus dazukam und seinem unbändigen Jubel in lauten Rufen Luft machte, da lief die ganze Nachbarschaft zusammen. Der Senator mußte ihm endlich Ruhe gebieten, aber bald darauf wußte ganz Blankenese von dem Glück, welches im Hause von Henriks Mutter eingekehrt war.
Fritze Fischer
Vor einem leichten Luftzug schaukelte der »Roland« auf den langen Grundwellen des Großen Ozeans südlich des Äquators in der Nähe der australischen Inselwelt.
Auf dem Vorderdeck standen der Erste Steuermann, Jan Findling, und neben ihm, in einfacher Matrosentracht, der, den er den Wellen der Nordsee entrissen hatte, Henrik Horsa. Beide schauten eifrig nach vorn aus.
Erst nach Wochen waren die Folgen einer starken Gehirnerschütterung so weit überwunden gewesen, daß der Jüngling Auskunft über sich, die Heimat und die Seinigen zu geben vermochte. Mit Überraschung vernahm der Kapitän, daß er in Henrik Horsa den Sohn eines vor Jahren verstorbenen Schiffskameraden, des Kapitäns Erich Horsa, vor sich hatte, dessen Witwe mit ihrem Kind in Blankenese lebte. Dies wandte natürlich dem Kranken des Kapitäns besondere Teilnahme zu. Als Henrik geistig und körperlich vollkommen hergestellt war, erkundigte Jansen sich bei ihm eingehend nach allen seinen Verhältnissen. Aus den Mitteilungen des Jünglings ging hervor, daß er nach dem Tod des früh entrissenen Vaters von einer zärtlichen Mutter in ihrem kleinen Witwenheim erzogen worden war. Dem von ihm, seitdem er denken konnte, leidenschaftlich gehegten Wunsch, den Beruf des Vaters ergreifen zu dürfen, stand der Wille der Mutter entgegen. Sie weinte noch immer um ihren im fernen Meer vor Jahren versunkenen Gatten und wollte den Einzigen nicht den treulosen Wellen anvertrauen. So bereitete sich Henrik, der das Realgymnasium absolviert hatte, gehorsam der Mutter, doch nicht mit rechter innerer Freude, auf den