So wurde der alte Arzt aus der Kreisstadt, der seit vielen Jahren die jungen und alten Zehren behandelte, nach Weltsöden berufen.
An der ganzen Person des alten Dr. Liebetrau war der auffallendste Teil sicher seine Nase. Vom feurigen Rosenrot bis zum tiefsten Violett erglühend, thronte sie in seinem Gesicht wie eine Herrscherin, umgeben von einem Hofstaat seltsamer kleiner Protuberanzen; zwei Wäldchen schwarzer Borsten erstreckten sich aus den breiten Nasenlöchern bis herab zu den finsteren Forsten des Schnurrbarts. Mit Schnupftabak, den er in einer mit dem Schattenriß Nettelbecks gezierten Horndose stets bei sich führte, bediente Dr. Liebetrau diese Nase, wie eine Weihrauch heischende Gottheit, und er schneuzte sie in rote Foulard-Taschentücher, auf deren türkischen Mustern die Spuren des Tabaks wenig sichtbar waren.
Zitternd erwartete Ilse den Doktor. – Wie sehr sehnte sie sich doch nach der Zeit zurück, da sie von Papa und Greinchen so wohl gehütet worden war, daß sie nichts von des Lebens Wirklichkeiten geahnt hatte! Und welch bitteres, dem Haß ach so verwandtes Gefühl, stieg doch bisweilen in ihrer geheimsten Seele gegen den auf, der ihr Traumdasein zerstört und an seine Stelle nur Grauen und Widerwillen gesetzt. Die ganze Welt erschien ihr heute angefüllt mit schauerlichen physischen Dingen. Tierische Triebe lagen als Ursprung hinter allem Lebenden; die ganze Schönheit der Welt, an der sie sich einst kindlich gefreut, war Trug und Blendwerk, sie entstieg ja eklen Tiefen. Manchmal wurde die arme kleine Ilse von solchen Bildern verfolgt wie von Dämonen, daß sie vor sich selbst schauderte. Wo waren all die zarten schönen Gebilde, die ganze große Sehnsucht ihrer Mädchentage hin verweht? – Dann zog sie sich voll Scham und krankhafter Überempfindsamkeit in sich selbst zurück, beneidete die Schnecken um ihr Gehäuse, in das sie sich allzeit verkriechen können und schuf sich ein Ideal einsamer Askese. Als Wehr gegen all das, was sie als Erniedrigung empfand, träumte sie von Nonnentum, von Welten ätherisch geschlechtsloser Wesen – und vernahm doch schon in dem verborgensten Innern ihres Wesens eine Stimme, die leise flüsterte: Du willst verneinen, was du ja noch gar nicht kennst.
Und nun sollte dieser Arzt kommen und würde an all das rühren, was sie so gern vergessen wollte.
Aber Dr. Liebetrau erwies sich als gar nicht erschreckend. Mit den kleinen klugen Äuglein, die wie vergessen zu beiden Zeiten der heroischen Nase lagen, schaute er Ilse gutmütig an. »Also man kann es nicht erwarten, daß wir ein eigenes Wickelkind haben?« sagte er, »sind ja selbst beinahe noch eins!«
Und als er nachher von Frau von Zehren eifrig nach etwa notwendigen Kuren oder Operationen ausgeforscht wurde, antwortete er: »Tun Sie vorläufig gar nichts. Lassen Sie das junge Frauchen erst mal heranwachsen und zu Kräften kommen. Es ist ein zartes Pflänzchen. Und wozu auch die Ungeduld? Warten Sie‘s doch ruhig ab – Rom ist auch nicht an einem Tage erbaut worden.«
»Aber bester Liebetrau,« entgegnete Frau von Zehren, »ich hab doch mein Lebtag noch nicht gehört, daß zu so was viele Tage nötig seien, und Sie reden heut ganz anders wie neulich, wo ich entdeckte, daß die Küchendörte ein uneheliches Balg erwartet – da meinten Sie, ich solle ihr verzeihen, denn so ein Unglück sei doch nun mal gar so rasch geschehen.«
Um aber Frau von Zehren die Beruhigung zu gewähren, daß doch etwas geschähe, um das Kommen des künftigen Erben zu beschleunigen, verordnete Dr. Liebetrau viel Ruhe und gute Ernährung und verschrieb Eisen und Arsenikpillen. Während er dann den mit Nettelbecks Bild gezierten Deckel der Horndose aufklappte und seiner Nase das Tabaksopfer darbrachte, sagte er: »Ich halte es übrigens wirklich für ein Unglück, so sehr jung ein Kind zu bekommen.«
»Aber bester Liebetrau,« rief Frau von Zehren, »es gibt doch viele Frauen, die nicht älter sind wie meine Schwiegertochter und die doch gesunde Kinder kriegen!«
»Ich dachte nicht nur an die physische Seite,« antwortete der alte Arzt, »aber vom Gefühlskonto geht solcher allzu jungen Mutter leicht das Beste verloren, denn sehen Sie, wo keine Zeit zu wahrer Sehnsucht gewesen ist, da kann nachher auch nicht die rechte Freude sein.«
»Aber ich würde mich doch freuen,« meinte Theophil würdevoll.
Einstweilen freute sich nur die Schwägerin Mechtildis. Über ihre bleichsüchtigen, verhärmten Züge huschte jetzt bisweilen der Schatten eines triumphierenden Lächelns. Sie fragte und forschte nach alledem mit der spürenden Neugier der ausgemergelten Frau, die ihr Leben zwischen Schwangerschaften und Niederkünften verbracht; auch ihre Mägde mußten sich bei denen des Herrenhauses stets von neuem erkundigen, und sie wußten bald, daß sie einem sonst verdienten Tadel leicht entgingen, wenn es ihnen nur gelang, rechtzeitig hinzuwerfen: »Na, bei der jungen Gnädigen drüben ist‘s noch immer nichts.«
»Wie sehr begreife ich deinen Kummer, liebste Mama!« sagte Mechtildis mit süßsauren Lippen zu Frau von Zehren, als diese sie eines Nachmittags zum Kaffee besuchte. »Bei mir konnten wir doch bis zuletzt hoffen – neunmal im ganzen – und wer weiß, was noch geschehen wäre, wenn mir der Himmel meinen teuren Gotthold nicht so frühzeitig entrissen hätte – aber hier, wo so gar nichts ist …«
Mechtildis hatte gerade ihrer Tochter Adelgunde, die mal wieder an geschwollenen Drüsen litt, ein mit Salbe beschmiertes Läppchen hinter das Ohr gelegt und schickte sich nun an, ihrer Tochter Hugoline Tropfen in die entzündeten Augen zu träufeln. Sie kam aus solchen Verrichtungen nie heraus bei den vielen stets an irgend etwas kränkelnden Mädchen.
»Ja, Mechtild,« antwortete Frau von Zehren und schaute den häßlichen Enkelinnen nach, die das Zimmer nach vollendeter Operation verließen, »ja, neunmal war es – aber wenn man‘s heut bedenkt, wär das alles doch besser nicht gewesen – denn was soll aus den vielen armen Mädels werden?«
Doch da fuhr die sanfte, farblose Mechtildis auf, als ob in ein blasses, abgebrühtes Suppenhuhn plötzlich Leben wiederkehre, und sie sagte mit erregter Stimme und brennenden Flecken auf den Wangen: »Nun, meine Töchter sind alle im adligen Stift vorgemerkt und können da eintreten – sollte Ilse dagegen Töchter kriegen, so beständen die die Ahnenprobe freilich nicht.«
»Du meinst wohl wegen ihrer Mutter?« fragte aufschauend Fräulein von St. Pierre, die sich gerade auf Urlaub vom Hofdienst bei Mechtildis aufhielt, »wie war doch gleich die Geschichte?«
Fräulein von St. Pierre kannte die Geschichte aufs genaueste, aber es freute sie, immer von neuem etwas zu hören, was Ilse in ihren Augen irgendwie herabsetzte, und Mechtild tat ihr den Gefallen. Eifrig wiederholte sie: »Nun ja, Ilses Mutter war doch nur die Tochter der Sängerin Ingeborg Thor Hacken, die mit dem Herzog Bernhard von Mömpelgarde morganatisch verheiratet gewesen sein soll.«
»Das ist allerdings nichts Stiftsfähiges,« sagte Fräulein von St. Pierre und rümpfte die Nase. Mit überlegenem Lächeln betrachtete sie dann ihr eigenes Bild in dem aus drei Stücken zusammengesetzten Mahagoni-Trumeauspiegel zwischen den beiden Fenstern von Mechtilds Wohnzimmer. Sie wiegte sich dabei etwas in ihren zur Breite neigenden Hüften, als wolle sie sagen: Bei mir sind nicht nur die zweiunddreißig Ahnen in Ordnung, sondern ich wäre auch fähig gewesen, diese Vorzüge auf kräftige Nachkommen zu übertragen.
Nur die Tanten Askania und Lidwine, die sich auch gerade bei Mechtild zum Nachmittagsstippkaffee eingefunden hatten, versuchten zum Guten zu reden.
»Ich erinnere mich noch ganz genau an die Ingeborg Thor Hacken,« meinte Tante Askania, »und kann‘s begreifen, daß sich der Herzog in sie verliebte, wie sang sie die Lucia! und was war sie hübsch! Nicht wahr, Lidwine?«
»Ja, ja,« antwortete eifrig das andere alte Stiftsdämchen, »und wißt ihr, manchmal will‘s mir scheinen, als habe unser reizendes Ilschen auch so etwas Apartes von ihr abbekommen.«
»Na, da sei aber Gott vor!« rief Frau von Zehren inbrünstig aus.
Die beiden alten Stiftsdamen zogen erschrocken ihre gehäkelten Tücher, deren sie stets mehrere bei sich trugen, fester um die flachen Busen, und Lidwine