Ilse empfand, dunkel und ohne sich noch die Gründe recht zu erklären, das Feindliche, das sie umgab. Zuweilen, wenn sie zwischen ihrer Schwiegermutter, Mechtildis und Fräulein von St. Pierre saß, war ihr, als sei die Luft mit lauter spitzen Glassplittern erfüllt, die von allen Seiten auf sie eindrangen. Dann überkam sie ein Gefühl des Frostes und der Armut, daß sie hätte betteln mögen – aber um was, wußte sie selbst nicht recht – vielleicht um jenes kostbarste aller Geschenke, ein bißchen Zärtlichkeit.
Die gab ihr niemand. Theophil am allerwenigsten. Er kannte nie fremde Sehnsucht, nur immer eigenes Verlangen. – Ilse erinnerte sich später, daß sie in jener ersten Zeit, wo sie sich oft wie gestrandet vorgekommen, bei einbrechender Dämmerung einmal allein in ihrem Zimmer gesessen hatte, das Herz schwer von innerer Verlassenheit. Da war Theophil eingetreten, und unwillkürlich und unüberlegt hatte sie ihm die Hand hingehalten. Sie empfand ja solch ein Bedürfnis nach leisen freundlichen Worten, nach etwas Musik des Herzens! – Aber statt dessen war es dann alles so garstig gewesen! – Gab es denn wirklich zwischen Mann und Frau immer nur diese eine Tonart? Durfte das sein, daß ein Mensch den anderen zu einer willenlosen, ihm gehörenden Sache erniedrige?
Er aber, der vor der herrischen Mutter in lebenslänglicher schwächlicher Nachgiebigkeit verharrte, fand einen seltsamen Reiz darin, sich selbst immer wieder zu beweisen, daß er dieses scheuen, zag zurückschreckenden Wesens Gebieter sei.
So glitten die Tage dahin und reihten sich aneinander zu Wochen und Monden.
In wüste Teufelstrift wurde fleißig gearbeitet. Vom Morgengrauen an war Förster Treumann mit seinen Leuten draußen, wenn sie in der Frühe kamen, lagerte der dichte Nachtnebel noch bläulich kalt und alles verbergend über der Erde; die Arbeiter tappten hinein und verschwanden schon nach ein paar Schritten in dem wehenden Grau, wie Schiffe auf nebliger See. Trieb aber ein Lufthauch den Dunst auseinander, daß der Boden für einen Augenblick dazwischen sichtbar wurde, so erhöhte dies noch den Eindruck unheimlicher Meerfahrt, denn langhin rollenden Wogen gleich schien dann die gelbbraune Sandfläche sich bis in weite Fernen zu ziehen.
Nach Tische pflegte Theophil seine Mutter und Ilse im kleinen Jagdwagen hinauszufahren. Dann stand man draußen eine Weile herum, und immer wieder wurden dieselben Dinge mit dem Förster besprochen. Boden siebenter Klasse war stellenweise Wüste Teufelstrift! Da mußten die schlimmsten Partien erst mal mit Besenpfriem angepflanzt werden, und wo der Sand gar zu sehr verwehte, wurden Spriegelzäune gebaut, ihn zu halten. – Bessere Teile bepflanzte man gleich mit zweijährigen Bankskiefern. Zwei Männer mit der Kulturleine schritten voraus, steckten sie mit Pflöcken an beiden Enden fest und bezeichneten dann die Stellen, wo die jungen Pflänzchen, anderthalb Meter auseinander, hinkommen sollten. – Ihnen folgten zwei Reihen Frauen; die ersten gruben mit Spaten die Löcher, die zweiten pflanzten die Bäumchen schnell ein, daß die geöffnete Erde nicht noch mehr austrockne. – Auf einer anderen weiten Strecke dagegen wurden jetzt nur die Löcher gegraben, daß sich während des Winters der Schnee darin sammle, und im Frühjahr gepflanzt werden könne. – Eine dritte Schonung endlich ließ Theophil mit besonderer Sorgfalt anlegen. Dort wurde gute Erde in Wagen angefahren und dann mit Karren in Haufen zwischen die Reihen geschüttet, und in jedes aufgegrabene Loch taten die Frauen etwas von der schönen dunklen Erde um die Wurzeln des Bäumchens, das sie pflanzten. – Das war das teuerste Verfahren, aber dank Ilses mütterlichem Erbteil konnte man sich solchen Versuch wohl mal leisten.
So wurde auf Wüste Teufelstrift mit den Bäumchen experimentiert, und es gab auch da solche, denen von Anfang an, ohne ihr Verdienst und Zutun, günstigere Lebensbedingungen geboten wurden als anderen.
»Werden das denn wirklich jemals schöne große Bäume werden?« fragte Ilse, auf die kümmerlichen Pflänzchen weisend, den Förster.
Der zuckte die Achseln. »Die Bäumchen an sich sind nicht schlecht, gnädige Frau,« antwortete er, »aber auf solchem Boden ist auch von der anspruchslosesten Pflanze nicht viel zu erwarten. Nach sechs Jahren können diese hier ungefähr einen Meter hoch sein, falls wir bis dahin nicht zu arge Dürre haben, und sie nicht die Schütte kriegen.«
»Nun und dann später?«
»Ja, – nach zwanzig Jahren muß man sie abtreiben, aber in der Zwischenzeit haben sie doch vielleicht den Boden etwas gebessert, durch ihren Schatten, die angesammelte Feuchtigkeit und den Nadelabfall.«
Zwanzig lange Jahre hier im Sande stehen, nur um den Boden zu verbessern für die, so nachher kommen würden! Der achtzehnjährigen Ilse klang das endlos lang. Sie fröstelte im matten Schein der sinkenden herbstlichen Sonne. – War das wirklich des Lebens ganzer Zweck und Inhalt? ein Jeder immer nur Vorbereitung für einen Künftigen? – Gab es nichts Höheres, wie nur geduldig still halten an dem Platze, den Zufall oder eigene Blindheit bestimmt? – Pflichten waren ihr früher, halb unbewußt, stets als schwer zu vollbringende, heroische Taten erschienen, und nun dämmerte es vor ihr auf, daß, in der Jugend, schwerer als alles Tun, das tatenlose Verzichten ist.
Eines Nachmittags, als Theophil seine Mutter und Ilse wieder einmal nach Wüste Teufelstrift kutschiert hatte, trafen sie dort des Försters junge Frau.
»Schau mal an,« sagte Frau von Zehren, »die Anne Dore hat es ohne ihren Mann nicht aushalten können und ist ihm nachgelaufen.«
»Ja – es gibt auch solche Frauen,« murmelte Theophil.
Die Anne Dore war rot und verlegen geworden, und Treumann entschuldigte ihre Anwesenheit.
»Nun, wenn sie Sie nur nicht von der Arbeit abzieht …«, meinte Theophil herablassend.
Während er dann mit seiner Mutter und dem Förster den Fortschritt der Arbeiten besichtigte, blieben die beiden jungen Frauen zurück.
»Mein Mann ist jetzt schon von früh ab hier draußen,« sagte Anne Dore, »da wollt ich doch mal nach ihm schauen – die gnädige Frau werden das sicher begreifen.«
»Sind sie wirklich so gern mit ihm zusammen?« fragte Ilse.
»Na, das will ich meinen!« antwortete Anne Dore lachend, »den ganzen Tag und – die ganze Nacht!« Und dann setzte sie hinzu: »Dazu heiratet man doch!«
Ilse sah sich um, ob niemand sie hören könne, und ohne die junge Försterfrau anzublicken, fragte sie dann eilig und leise: »Wußten sie denn … was das eigentlich heißt … sich zu verheiraten?«
»Na gewiß doch,« antwortete die andere, »und es war oft schwer genug zu warten während unserer langen Brautzeit – bis er die Stelle hatte, auf die hin wir heiraten konnten – na, aber jetzt! —«
Aber Anne Dore lief ihrem Mann den langen Weg bis Wüste Teufelstrift nicht mehr häufig nach, sie sah blaß und müde aus. Einen Sonntag nach dem Gottesdienst rief Frau von Zehren sie beim Verlassen der Kirche zu sich und stellte eine Art Verhör mit ihr an, während Treumann abseits stehen blieb und halb stolz, halb schuldbewußt den Jägerhut zwischen den Fingern drehte. Nachdem sie dann Anne Dore mit gnädigem Kopfnicken entlassen halte, trat Frau von Zehren wieder zu Theophil und Ilse, die am verschneiten Grabe des töchterreichen Gotthold auf sie gewartet hatten. »Bei Anne Dore ist‘s soweit,« sagte sie unsanft zu Ilse gewandt, »die kriegt ein Kind – hat zur selben Zeit geheiratet wie ihr – ja, so eine Frau kann das – na, ich hoffe bestimmt, du machst es ihr bald nach.«
Aber trotz dieses Wunsches, der wie ein Befehl des Zehrenschen Familiengeistes klang, ergab sich für Ilse keine Veranlassung, die in F. A. Ammons Werk erhaltenen Ratschläge anzuwenden. – Und es begann allmählich eine erbitterte Stimmung in Weltsöden zu herrschen. Die rund herum auf ihren Gütern sitzenden Vettern fingen an Theophil leise zu necken, wenn sie ihm bei Jagden, Kreistagen oder Familienvereinigungen begegneten: »Na, heiliger Theophil, was Neues zu Haus?« – Theophil kehrte dann mit dem Ausdruck beleidigter Würde heim; bisweilen hüllte er sich in langes mürrisches Schweigen, oder er gab Ilse zu verstehen, daß sie sein Ansehen in der Familie mindere. Bei seiner Mutter beschwerte er sich, als würde ihm vorenthalten, worauf er ein gutes Recht habe.
Frau