Auf einmal ließ sich die Stimme des Grafen de Vignerolles vom oberen Ende der Tafel herab hören, freundlich und wohlwollend.
»Sind Sie schon lange in unserem Louisiana, lieber Vergennes?«
»Bereits zehn Wochen, Monsieur de Vignerolles.«
»Schon zehn Wochen? Da haben Sie freilich unser Land kennenzulernen Gelegenheit gehabt!«
Und die Miene des Grafen überflog ein ungemein fein ironisches Lächeln. Alle sahen ihn erwartend an. Er wandte sich an Papa Menou.
»Gedenkst du noch der Zeiten von 1788? Du warst damals freilich noch sehr jung, bist fünf Jahre jünger als ich. Welcher Unterschied zwischen dem alten und dem jungen Frankreich!«
»Es hatte viel Aufrichtigkeit und Feingefühl, das gute alte Frankreich«, murmelte Lassalle.
»Les extrêmes se touchent«, bemerkte der Graf. »Wir hörten in unserer Jugend die Nachklänge der alten, in unserem Alter hören wir die Anklänge der neuen Herrschaft.«
»Ich halte es mit der neuen!« rief Vergennes mit beinahe herausfordernder Heftigkeit. Der gute Junge hatte etwas zu viel Chambertin eingenommen.
»Ich glaube nicht, daß der gesellschaftliche Zustand im ganzen bei den großen Umwälzungen verloren hat«, erwiderte Vignerolles im selben freundlichen Ton. »Wir haben verloren, soviel ist ausgemacht, aber das Volk hinwieder gewonnen.«
»In fünfzig Jahren wird Europa republikanisch oder kosakisch sein!« behauptete Vergennes kurz und bestimmt.
»So hat Napoleon gesagt«, entgegnete der Graf in seinem gefällig leichten Ton. »Ich wieder bin der festen Meinung, daß die Throne der alten Welt so ruhig fortbestehen werden wie in der neuen Welt Republiken entstehen und fallen werden. An ihrem Glanz mögen sie allenfalls einbüßen, aber ihr Dasein ist zu tief in der menschlichen Natur begründet, als daß sie gestürzt werden könnten. Als Napoleon die berühmten prophetischen Worte sprach, hatte er noch keine Ahnung von der großen Macht, die seit seinem Fall entstanden ist, der Macht der Geldaristokratie, die als Mittlerin zwischen Völkern und Thronen beide in der Waagschale hält und kosakischer Willkür nie den Eingang in das eigentliche Heiligtum europäischer Zivilisation gestatten wird. Ihr Losungswort ist Sicherheit des Eigentums.«
»Aber Sie geben doch zu, Monsieur de Vignerolles«, wandte Vergennes ein, »daß die Welt seit den letzten zwanzig Jahren demokratischer geworden ist, als sie es je war.«
»Ohne Zweifel haben die materiellen, oder was dasselbe sagen will, demokratischen Interessen seit zwanzig Jahren gewonnen. Aber eben weil sie materiell sind, werden sie, wenn sie bis zu einem gewissen Punkt gelangen, konservativ. Denn merken Sie wohl, Individuen wie Staaten sind nur demokratisch, solange sie arm sind. Reich geworden zeigen sie sich konservativ, aristokratisch. Die Interessen ...«
»O diese Interessen, diese Interessen!« unterbrach Vergennes.
»Für uns Europäer ist es ungemein schwer, lieber Vergennes, das Wesen des republikanischen Charakters zu erfassen, und noch schwerer, Geschmack daran zu finden. Wir sind in zu künstlichen Formen auferzogen, um an der natürlichen Ungezwungenheit — einer philosophischen Ordnung der Dinge Gefallen zu finden. Die Menschen erscheinen uns nicht nur zu ungeniert, sondern auch zu selbstsüchtig im Vergleich mit der Ergebenheit der alles aufopfernden Treue rein monarchisch beherrschter Nationen. Die Ursache ist wohl diese, daß in reinen Monarchien die Interessen aller, der allgemeine Egoismus, wenn ich so sagen darf, in der Hand eines einzigen Mannes und seines Kabinetts konzentriert, in Republiken hingegen dieser Egoismus über die ganze Masse der Bürger zerstreut ist. Daher die Erscheinung, daß je republikanischer eine Regierung wird, desto selbstsüchtiger und geldsüchtiger das Volk. Ich zweifle, ob Napoleon, wenn er heute in all seiner Kraft erstünde, noch die Hälfte der Opfer von unserem Frankreich erlangen würde, die ihm während seines Konsulats und Kaisertums zu seinem Unglück gewissermaßen aufgedrungen wurden.«
Der Graf machte eine Pause und fuhr dann fort: »Ebenso zweifle ich, ob sich heutzutage fünfzig Kavaliere finden würden, die, wie wir es zu tausenden taten, ihrem Vaterland, ihren Besitzungen und Familien den Rücken kehren würden, um für eine hohe Idee zu kämpfen. Die materiellen Interessen sind das Grab jener hohen Treue, wie sie früher verstanden wurde, aber sie haben auf der anderen Seite wieder das Gute, daß auch die sogenannten Prinzipmänner heutzutage nur wenig mehr ausrichten würden.«
»Und halten Sie das für etwas Gutes?« Die Lippen von Vergennes kräuselten sich auf eine Weise, die zu verstehen gab, wie gern er einen solchen Prinziphelden spielen würde.
»Allerdings, lieber Vergennes! Wir haben die Übel geschaut, die Brände gesehen, die Stürme, die diese Prinzipmänner, die Mirabeaus, die Robespierres, Dantons, Marats, verursacht haben.« Der Graf sah den jungen Mann mit einem funkelnden Blick an. »Es ist etwas Schönes und wieder etwas Furchtbares mit einem sogenannten Prinzipmann. Er ist ein Wesen, das seinem Prinzip alles opfert — Religion und Familie, Vaterland und Herd. Anarchie und Verwirrung, das Zerreißen alle Bande von Liebe, Freundschaft und Gesellschaft, Ströme von Blut, brennende Städte und rauchende Landschaften kümmern ihn nicht, so nur sein Prinzip weiterschreitet. Es ist sein Gott, dieses Prinzip, dem er das ganze Menschengeschlecht zum Opfer bringen möchte! Es ist wirklich etwas Gottähnliches in dem konsequenten Aufrechterhalten eines Prinzips, aber darum wehe dem armen Erdensohn, der sich Allgewalt anmaßt, ohne deren Arm zu besitzen! Er fällt früher oder später als der Sklave, das Opfer seiner Anmaßung. Mirabeau und Robespierre, Danton und Marat waren Prinzipmänner. System-Männer, Erdengötter — sie fielen. Warum? Weil sie nicht die Kraft hatten, ihr Prinzip bis zum Ende durchzuführen. Noch einen Schritt, und sie hätten triumphiert. Aber diesen Schritt vermochten sie nicht mehr zu tun, die Kraft ging ihnen aus, weil sie beschränkte Erdensöhne waren.«
»Aber ihre Prinzipien, ihre Systeme stehen fest«, erwiderte Vergennes. »Ein anderer führt sie, bringt sie zum Ziel!«
»Nie wird ein System-Mann ein Prinzip fortführen, das ein anderer begann«, versetzte der Graf. »Es ist moralisch unmöglich, ein Denkmal wahnwitziger Vermessenheit findet er es, und es bleibt, gleichsam wie kahle riesige Grundmauern eines aus den Trümmern einer zerstörten Stadt aufgebauten Warnungstempels, dem vorübergehenden Wanderer ins Auge zu starren, ihm die furchtbaren Schicksale der geschlachteten Tausende, den Jammer der Väter und Mütter, die Flüche, die Verzweiflung eines ganzen Volkes zu erzählen und Nachteulen, Schlangen und Fledermäusen zum Schlupfwinkel zu dienen.«
»Was hat der Mann gegen Prinzipien, scheint kein Freund von Prinzipien?« raunte Doughby zu Howard hinüber. »Gebe keinen Strohhalm für einen Mann ohne Prinzipien!«
»Vergebung, Mister Doughby!« sagte der Graf, der ihn gehört hatte. »Ein Mann ohne Prinzipien, ohne Grundsätze, der ist freilich nur wenig wert. Aber es ist ein großer Unterschied zwischen einem Mann von Grundsätzen und einem Prinzip- oder System-Mann.«
»Verstehe, was Sie sagen wollen, Monsieur de Vignerolles«, fiel Doughby ein. »Dem einen sind die Prinzipien Meilenzeiger auf seinem Wege, die ihn die gerade Straße fortführen, dem anderen ist sein System ein Sporn, der ihm Tag und Nacht in den Flanken sitzt, ihn zu Tode hetzt. Wüßte auch etwas von derlei Prinzipmännern zu erzählen.«
»Aber mein Gott, Papa!« unterbrach Luise die Diskussion. »Über lauter Prinzipien haben wir ganz das Dessert vergessen!«
Und alle schauten auf und riefen laut: »Ma foi! — En vérité! — Mais voyez donc!« Wirklich hatten sie in der Hitze des Gefechts ganz diesen wesentlichen, ja vorzüglichen Bestandteil einer Louisianatafel vergessen. Die Überbleibsel des zweiten Gangs standen noch immer in nichts weniger als malerischen Bruchstücken umher, und die Diener, schien es, machten es sich auch bequem, keiner war zu sehen.
»Mein Gott, wo sind denn die Leute alle?« jammerte die Maman. »Kein einziger ist da! Champagner seit einer halben Stunde auf der Tafel und kein Dessert! Welche Verwirrung!«
Der