G. Aktuelle Entwicklungslinien und Ausblick
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Einheit und Effektivität des EU-Rechts
Dem EuGH ist beizupflichten, dass die umfassenden Einwirkungen des Unionsrechts auf das mitgliedstaatliche Recht zu einem „strukturierten Netz miteinander verflochtener Grundsätze, Regeln und Rechtsbeziehungen geführt [haben], das die Union selbst und ihre Mitgliedstaaten wechselseitig sowie die Mitgliedstaaten untereinander bindet“[353]. Der „rote Faden“ aller Grundsätze zum Verhältnis von Unionsrecht und deutschem (bzw. sonstigem mitgliedstaatlichen) Recht ist dabei das Ziel der Sicherstellung einer einheitlichen und effektiven Umsetzung des Unionsrechts[354] und damit die Verwirklichung der Integration durch Schaffung einer echten Rechtseinheit.[355] Dieser „Faden“ wurde vom Gerichtshof schon frühzeitig (van Gend & Loos, Costa/ENEL) und bis heute immer wieder entschlossen, dabei die Grenzen der Rechtsfortbildungskompetenz teilweise sehr weit ausschöpfend, durch die Unionsrechtsordnung gezogen und hält diese zusammen.[356] Der Gerichtshof ist Motor, Garant und Hüter der Einheit und Effektivität des EU-Rechts und damit der Europäischen Rechts union.
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Gefährdungen durch Fliehkräfte
In Zukunft wird der EuGH in dieser Funktion wohl noch mehr gebraucht werden: Nicht nur der Brexit[357], sondern vor allem die Rechtsstaatskrisen in Polen und Ungarn[358] zeigen die desintegrativen Fliehkräfte. Dass Polen Richterinnen und Richter für die Befolgung eines EuGH-Urteils disziplinarisch ahndet,[359] ist augenfälliger Ausdruck, dass nicht mehr nur der Vorrang des Unionsrechts, sondern gar die gemeinsamen Werte der EU (Art. 2 EUV) durch rechtsstaatliche Fehlentwicklungen, Nationalismus, Populismus und Entsolidarisierung (insbesondere im Umgang mit den globalen Migrationsströmen in die EU) vermehrt in Frage gestellt werden. Die Berufung auf die nationale Identität wird zum Teil zur missbrauchten Chiffre für „illiberale Demokratie“ oder offene Ablehnung europäischer Rechtsetzung und Rechtsprechung.[360] Dies ist eine ernste Gefahr für den Fortbestand der Rechtsunion – denn der Vorrang im Allgemeinen und die Werte der EU im Besonderen beruhen auf der Akzeptanz der Mitgliedstaaten.
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Durchsetzungsschwächen
Die EU hat (bislang) kaum Möglichkeiten zur zwangsweisen Durchsetzung ihres Rechts.[361] Art. 7 EUV erweist sich als „stumpfes Schwert“. Die Koppelung von EU-Subventionen (Fonds) an die Einhaltung des Unionsrechts (insbesondere rechtsstaatlicher Grundprinzipien wie die Unabhängigkeit der Justiz) ist beschlossen,[362] derzeit sind aber noch Klagen gegen die Verordnung beim EuGH anhängig.[363] Solange dies so bleibt, kommt dem Vertragsverletzungsverfahren unter den Sanktionsinstrumenten und folglich der Kommission[364] und dem EuGH[365] (vgl. Art. 258, 260 AEUV) weiterhin die Schlüsselrolle für die Wahrung des Rechts in der EU zu. Der EuGH hat mit der Operationalisierung der Werteklausel aus Art. 2 EUV[366] über Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV (i. V. m. Art. 47 GRCh) seine Rolle als Grundrechtegericht endgültig gefunden und auf konsequente Weise eine Phase der Neo-Konstitutionalisierung der EU als Werteunion[367] und der Rückbesinnung auf die bisherigen, seit Jahrzehnten bewährten Narrative der europäischen Integration (Rechtsgemeinschaft,[368] Wohlfahrts- und Solidargemeinschaft[369]) eingeläutet.[370]
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Souveränität und nationale Identität
Umgekehrt darf aber auch die Gefahr nicht aus dem Auge verloren werden, dass die EU im Allgemeinen und der EuGH im Besonderen im Selbstbewusstsein ihrer weitreichenden Kompetenzen über ihr Mandat hinausgehen sowie die Souveränität und nationale Identität der Mitgliedstaaten nicht ausreichend achten.[371] Dies ist primär eine politisch zu bewältigende Frage,[372] daneben aber auch eine rechtliche. So können etwa die Kontrollvorbehalte, wie sie unter anderem das BVerfG in Anspruch nimmt, wenn sie mit Bedacht sowie im Geiste der Kooperation und Europafreundlichkeit ausgeübt werden, durchaus ein probates Mittel der Einhegung bzw. Disziplinierung (insbesondere des EuGH, aber auch nationaler Verfassungsorgane) sein und – wie auch schon in der Vergangenheit – Lernprozesse anstoßen bzw. Selbstkorrekturen bewirken. Insgesamt sieht sich die „EU der 27“ als föderale[373], supranationale Rechtsunion gegenwärtig mit zahlreichen alten wie neuen Herausforderungen konfrontiert, deren Bewältigung eine angemessene Austarierung der „Vielfalt in der Einheit“[374], in Zeiten schwindenden Rechtsgehorsams, schwindender Loyalität und schwindender Solidarität aber nicht zuletzt auch eine ideelle Rückbesinnung auf den Gemeinschaftsgedanken[375], begleitet von einer Effektuierung des „Durchsetzungsrechts“[376], verlangt.
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I. Abstract
1. | The EU and its Member States have separate legal orders. Nevertheless, their legal orders influence each other and are closely interconnected (par. 1). |
2. | EU law as a whole, including primary, secondary and so-called tertiary law (delegated and implementing acts), is directly applicable in the Member States (par. 2 et seq.). |
3. |
The applicability of EU law in the Member States is justified on different grounds. The ECJ describes the European Union as an autonomous legal system. Hence, EU law draws its applicability directly from the Treaties. The prevailing opinion in German legal scholarship focuses on the national
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