Schuldrecht nach Anspruchsgrundlagen. Kurt Schellhammer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kurt Schellhammer
Издательство: Bookwire
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Год издания: 0
isbn: 9783811456495
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haben sein Gesicht verändert. Das behäbige Sachenrecht, ergänzt durch WEG und ErbbauRG, hat die Zeitläufe im Kern unbeschädigt überstanden, das Erbrecht nicht minder. Im Familienrecht dagegen blieb kein Stein auf dem anderen. Man wundert sich fast, dass es die Ehe zwischen Mann und Frau noch gibt.

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      Der Geist des BGB hat sich aber auch dort gewandelt, wo sein Text noch immer der alte ist. Das Menschenbild des Grundgesetzes färbt auch auf das BGB ab. Die Grundrechte sind zwar keine Privatrechte, sondern Abwehrrechte des Bürgers gegen staatliche Willkür[5]. Als verfassungsrechtliche Grundentscheidungen aber bilden sie eine objektive Wertordnung höchsten Ranges, an der das einfache Recht zu messen ist[6]. Auch Zivilrechtsnormen sind „im Lichte“ des Grundgesetzes verfassungskonform so auszulegen, dass die Grundwerte der Verfassung zur Geltung kommen[7]. So ist die Vertragsfreiheit als Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 I GG im Kern unantastbar[8]. Vor allem die Generalklauseln der §§ 138, 157, 242, 826 mit ihren weiten, ausfüllungsbedürftigen Begriffen wie „gute Sitten“ oder „Treu und Glauben“ sind die Einfallstore für die Grundrechte der Verfassung[9]. Dass die Zivilgerichte das BGB verfassungskonform auslegen und anwenden, überwacht auf Verfassungsbeschwerde einer Prozesspartei das Bundesverfassungsgericht (Art 93 I Nr. 4a GG).

      Beispiele

- Die öffentliche Hand muss die Bürger nach Art. 3 GG auch dann gleich behandeln, wenn sie am Privatrechtsverkehr teilnimmt (BGH 65, 284; 91, 84; NJW 59, 431; 69, 2195; 85, 197; 85, 1892; zum AGG: RN 1896).
- Was „gute Sitten“ (§ 138) seien, und was Treu und Glauben (§ 242) bedeuten, bestimmt weithin die Wertordnung des Grundgesetzes (RN 1172, 2358).
- Im sozialen Mietrecht prallen das Eigentumsrecht des Vermieters (Art. 14 I 1 GG) und das Recht des Mieters auf sozialen Bestandsschutz und effektiven Rechtsschutz (Art. 20 III GG) derart hart aufeinander, dass das Bundesverfassungsgericht zunehmend in die Rolle eines obersten Mietgerichts gedrängt wird (RN 250 ff.).
- Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das als „sonstiges Recht“ nach § 823 I absoluten Deliktsschutz genießt, hat man direkt aus Art. 1 und 2 GG abgeleitet. Da es auch die persönliche Ehre einschließt, ist der zivilrechtliche Ehrenschutz nicht mehr auf § 823 II mit §§ 185 ff. StGB angewiesen, sondern lässt sich unmittelbar auf § 823 I stützen. Aber man muss das Persönlichkeitsrecht des Beleidigten nach subtilen Regeln gegen das Recht des Beleidigers auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 GG abwägen (BVerfG NJW 95, 3303).
4. Kapitel Die Rechtsanwendung

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      Recht anwenden heißt, für einen bestimmten Lebenssachverhalt (Autokauf oder Verkehrsunfall) aus einer abstrakten Rechtsnorm (§ 437 BGB oder § 7 I StVG) konkrete Rechtsfolgen ziehen. Wie aber lässt sich zwischen zwei heterogenen Größen: der abstrakten Rechtsnorm und dem konkreten Lebensvorgang eine plausible Verbindung herstellen? Jede vollständige Rechtsnorm besteht aus zwei Teilen: aus Tatbestand und Rechtsfolge. Rechtsfolge ist oft ein Anspruch. Die Rechtsnorm ist dann Anspruchsgrundlage und ihr Tatbestand formuliert die Anspruchsvoraussetzungen. Den Anspruch bekommt nur, wer die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt. Der Versuch, die Tatsachen des Lebens mit den Begriffen des Gesetzes in Einklang zu bringen, heißt von alters her Subsumtion und besteht aus drei Sätzen: aus Obersatz, Untersatz und Schlusssatz, nach dem bekannten naturwissenschaftlichen Muster: Alle Menschen müssen sterben (Obersatz). Sokrates ist ein Mensch (Untersatz). Also muss auch Sokrates sterben (Schlusssatz).

      Der Jurist argumentiert genauso, ersetzt das „Müssen“ freilich durch das „Sollen“. Obersatz ist die abstrakte Rechtsnorm, Untersatz der konkrete Rechtsfall (Sachverhalt), Schlusssatz die konkrete Rechtsfolge.

Obersatz: Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Eigentum eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen nach § 823 I zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.
Untersatz: Der Beklagte hat den Hund des Klägers, einen dreijährigen Boxer-Rüden im Werte von 1 500,– €, willentlich vergiftet, weil ihn das ständige Bellen störte.
Schlusssatz: Also ist der Beklagte verpflichtet, dem Kläger den Schaden von 1 500,– € zu ersetzen.

      Der juristische Denkweg beginnt mit der konkreten Rechtsfolge, die der Kläger im Klageantrag formuliert (Anspruch auf 1 500,– € Schadensersatz), sucht nach der passenden Anspruchsgrundlage für Schadensersatz (§ 823 I) und prüft, ob der konkrete Sachverhalt (Vergiftung des Hundes) den abstrakten Tatbestand der Anspruchsgrundlage (rechtswidrige und schuldhafte Eigentumsverletzung) erfülle.

      2.1 Die Reihenfolge der rechtlichen Prüfung

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      Rechtsfälle handeln meist von Ansprüchen, schon in der Ausbildung und erst recht in der Prozesspraxis. Der Rechtsfall besteht aus einem – unstreitigen oder streitigen – Sachverhalt und wirft die Frage auf, wer was von wem verlangen darf. Ein Anspruch kann mehrere Rechtsgrundlagen haben, also prüft man sie alle, wegen der unterschiedlichen Reichweite und Stärke aber in folgender Reihenfolge:

- Ansprüche aus Vertrag, entweder auf Vertragserfüllung oder auf Schadensersatz wegen Vertragsverletzung;
- Ansprüche aus vertragsähnlicher Beziehung nach §§ 122, 179, 683 und aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen nach §§ 280 I 1, 311 II;
- dingliche Ansprüche aus §§ 861 f., 985, 987 ff., 1007, 1004;
- Ansprüche aus unerlaubter Handlung und Gefährdungshaftung nach §§ 823 ff.;
- Bereicherungsansprüche nach §§ 812 ff.

      Der Vertrag steht deshalb an erster Stelle, weil er spezieller ist als das Gesetz und die gesetzlichen Ansprüche beschränken oder gar ausschließen kann. Der dingliche Anspruch ist oft stärker als der außervertragliche schuldrechtliche, der deliktische Anspruch stärker als der Bereicherungsanspruch.

       [Bild vergrößern]

      Sind mehrere Anspruchsgrundlagen nebeneinander anwendbar, begründen sie in