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Hinzu tritt, dass Ermittlungsverfahren erst in denjenigen Fällen angestoßen werden, in denen das Anzeigerisiko durch die Beeinträchtigung von Individualinteressen ansteigt und bei denen das Arzneimittelstrafrecht kontextual verwirklicht ist (mithin als Vorbereitungstat oder Durchgangsstadium für einen anderen Tatbestand fungiert, insbesondere Betrug, Untreue, aber auch Körperverletzung).[4] Als Vergehen sind die §§ 95 ff. AMG einer flexiblen Handhabung durch die Staatsanwaltschaft (§§ 153, 153a StPO) zugänglich, zumal nicht selten polizeipräventive und berufsrechtliche Maßnahmen als „Sanktion“ ausreichen. Entsprechend dünn besiedelt ist die Rechtsprechung zum Arzneimittelstrafrecht (was zumindest ihre Auswertung vereinfacht): Diverse Rechtsprechungsdatenbanken zeigen bei Eingabe der Grundstrafnorm (§ 95 AMG) in die Suchmaske für den gesamten Zeitraum der Erfassung zwischen 50–100 Entscheidungen an, für den Zeitraum zwischen 2014–2017 sind es zwischen 15–30 Treffer.
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Viele Auslegungsfragen der Arzneimittelmarktregulierung (man denke an die Preisbindung bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln,[5] die Einordnung der Zulassung als produkt- oder personenbezogen[6] oder an die Grenzen und Reichweite des Re- und Parallelimports[7]) betreffen ausschließlich den legalen Arzneimittelverkehr. Über diese wird in zivil- und verwaltungsrechtlichen Verfahren gestritten, weswegen sie – mögen sie aus gesundheitspolitischer Perspektive paradigmatisch sein – für das Strafrecht keine Rolle spielen. Die dargelegten Streitfragen werden von „Betroffenen“, also denjenigen ausgefochten, die ihr Verhalten idealtypisch an den Vorschriften des AMG ausrichten (Pharmazeuten, Apotheker etc.). Daher werden gerichtliche Entscheidungen meist auch durch ein „transparentes Verhalten“ (Antragsstellung) herausgefordert.[8]
III. Arzneimittelrecht als „Auffangbecken“ für unliebsame Substanzen?
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Überhaupt hat das Arzneimittelrecht bis dato strafrechtlich stets dann eine Rolle gespielt, wo es gerade keine Anwendung hätte finden dürfen, namentlich im Bereich der Rauschgiftkriminalität und des Dopings. So wurde bis vor kurzem noch der Funktionsarzneimittelbegriff – im wahrsten Sinne des Wortes – zur Erfassung neuer psychoaktiver Substanzen funktionalisiert, die mangels Aufnahme in die Anlagen des BtMG nicht als Betäubungsmittel klassifiziert werden konnten (→ BT Bd. 6: Oğlakcıoğlu, § 54 Rn. 5 ff.). Die meisten höchstrichterlichen Urteile zum Arzneimittelstrafrecht haben Sachverhalte zum Gegenstand, in denen es eben um diese Auffangfunktion des Arzneimittelbegriffs innerhalb der Rauschgiftkriminalitätsbekämpfung geht.[9] Der EuGH hat diesem Vorgehen mit einer Entscheidung vom 10. Juli 2014[10] einen Riegel vorgeschoben, worauf der Gesetzgeber mit dem Erlass des Neue-Psychoaktive-Stoffe-Gesetzes (NpSG) reagierte.[11] Präparaten, die der Leistungssteigerung dienen, wurde nach einem kurzen Intermezzo der Dopingstrafbarkeit über die Vorschriften des AMG (§ 95 Abs. 1 Nr. 6a AMG a.F.)[12] ein eigenständiges Regelwerk, das Antidoping-Gesetz gewidmet.[13]
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Damit wurden zwei praktisch bedeutsame Substanzklassen (Doping und nicht unter die Anlagen des BtMG fallendes Rauschgift) dem AMG endgültig und unmissverständlich entzogen und in andere Gesetze überführt. Noch hat sich dieses „Outsourcing“ des Arzneimittelrechts (wegen der ohnehin geringen Bedeutung des AMG in der PKS) kaum bemerkbar gemacht, doch lässt sich für die Zukunft eine weitere Abnahme der praktischen Bedeutung des Arzneimittelstrafrechts prognostizieren. Daran dürfte auch das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (AMVSÄndG, Rn. 1) nicht viel ändern, da die Neufassung des § 6 AMG, auf den § 95 Abs. 1 Nr. 2 AMG Bezug nimmt, vor allem dazu diente, den bundesverfassungsgerichtlichen Anforderungen an die Bestimmtheit einer Strafnorm gerecht zu werden; die Vorschrift hatte aber vor dieser Änderung aus strafrechtlicher Perspektive untergeordnete Bedeutung. Im Folgenden beschränken sich die Ausführungen daher auch auf eine Darstellung der Systematik, eines Überblicks hinsichtlich der zentralen Bezugsnormen und der zentralen Begriffe des Arzneimittel(straf)rechts.
I. Systematik der Strafvorschriften
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Eine Grobstruktur des Arzneimittelstrafrechts erfolgt durch die Dreiteilung in den §§ 95, 96 und 97 AMG: die als besonders schwerwiegend klassifizierten Verstöße werden im Primärtatbestand des § 95 AMG[14] (Geldstrafe bis zu drei Jahren, in einem besonders schweren Falle ggf. sogar bis zu zehn, Abs. 3) zusammengefasst. Diesbezüglich sind sowohl die versuchte als auch die fahrlässige Begehung unter Strafe gestellt, §§ 95 Abs. 2, Abs. 4 AMG. Mittelschwere Verfehlungen finden sich im Katalog des § 96 AMG, der nur die vorsätzliche Begehung erfasst, während die fahrlässige Verwirklichung (§ 97 Abs. 1 AMG) ebenso wie sonstige leichtere Zuwiderhandlungen (insbesondere gegen Verfahrens- und Dokumentationsvorschriften, § 97 Abs. 2 AMG) auf der dritten Stufe nur als Ordnungswidrigkeit geahndet werden.[15]
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Die Einteilung nach „Schweregraden“ bzw. Pflichtverstößen unterschiedlicher Qualität lässt sich am Beispiel der Abgabe von apothekenpflichtigen Arzneimitteln gut demonstrieren: Während die Abgabe apothekenpflichtiger, aber nicht verschreibungspflichtiger Substanzen außerhalb der Apotheke lediglich eine Ordnungswidrigkeit darstellt (§ 97 Abs. 2 Nr. 10, Nr. 11 AMG), ist die Abgabe von verschreibungspflichtigen Arzneien innerhalb der Apotheke ohne Vorlage eines Rezepts gemäß § 96 Nr. 13 AMG strafbewehrt. Der kumulative Verstoß gegen Apotheken- und Rezeptpflicht wurde in den Katalog der „Primärtatbestände“ aufgenommen, § 95 Abs. 1 Nr. 4 AMG.
II. Tatbestandsstrukturen, insbesondere Blanketttechnik
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Die im Arzneimittelrecht ausschließlich zur Anwendung kommende „Blanketttechnik“ soll eine Konnexität zwischen Strafnorm und Regelungsmaterie herstellen und durch Legaldefinitionen und Bezugnahmen auf konkretisierte Verbote dem Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG) Rechnung tragen. Gemeinhin wird zwischen echten Blankettvorschriften (also Tatbeständen, die auf Normen Bezug nehmen, die nicht vom parlamentarischen Gesetzgeber erlassen wurden, sondern von einer anderen Normsetzungsinstanz stammen, etwa eine Verordnung als Exekutivakt) und unechten Blanketten in Form einfacher Binnenverweisungen differenziert.[16] Außerdem soll die Ausfüllung echter Blanketttatbestände durch Exekutivakte eine unkomplizierte Aktualisierbarkeit der Strafnormen gewährleisten, während mit der Erklärung etwaiger Wendungen mittels Binnenverweisungen ein greifbares und strukturiertes Gesetz bezweckt wird. Dass dieses Ziel zumindest bei mehrstufigen Blankettdelikten – egal ob „echt“ oder „unecht“ – nicht erreicht werden kann, drängt sich auf; aber dies ist nicht der wesentliche Grund, warum beide Arten der Regelungstechnik auf Kriegsfuß mit Art. 103 Abs. 2 bzw. Art. 20 Abs. 3 GG stehen.
1. Binnenverweise und Normspaltung
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Der genannte Vorteil „bestimmter“ – weil akzessorischer – Vorgaben verkehrt sich regelmäßig, da die einheitliche Begriffsbildung nicht immer durchgehalten werden kann, wenn man das Prinzip „subsidiären Rechtsgüterschutzes“[17] ernst nimmt. Damit läuft die mit der Blanketttechnik angestrebte Vereinheitlichung einer Regelungsmaterie stets Gefahr, sich widersprüchlich fortzuentwickeln, da es vom Einzelfall