Ein Fall aus der neuesten Rechtsprechung liefert zu dieser Problematik ein lehrreiches
Beispiel:[23] A und B veranstalteten spontan auf dem Kurfürstendamm ein illegales Autowettrennen. In dessen Verlauf fuhren A und B nach Erreichen einer Geschwindigkeit von mindestens 170 km/h bei Rot in einen Kreuzungsbereich ein. Spätestens jetzt – zu einem Zeitpunkt, als sie schon absolut unfähig waren, noch zu reagieren – war beiden bewusst, dass ein bei grüner Ampelphase berechtigt in die Kreuzung einfahrender Fahrzeugführer und etwaige Mitinsassen bei einer Kollision mit den von ihnen gelenkten Pkw nicht nur verletzt, sondern sogar zu Tode kommen könnten. Auf der Kreuzung kollidierte das Fahrzeug des A tatsächlich mit dem Wagen des C, der bei Grün in die Kreuzung eingefahren war und durch den seitlichen Aufprall sofort getötet wurde. Strafbarkeit des A? (Raser-Fall verkürzt nach BGH NStZ 2018, 409; eine ausführliche Darstellung und Lösung dieses Falles unter Berücksichtigung des neuen § 315d StGB findet sich in Rn. 103 und Rn. 104)
Lösung: Der 4. Senat hat die Verurteilung des A wegen Mordes durch das LG Berlin (vgl. zu den einschlägigen Mordmerkmalen die klausurmäßige Lösung des Falles in Rn. 103 und Rn. 104) in einem spektakulären ersten Revisionsurteil zunächst aufgehoben, da der hierfür mindestens erforderliche bedingte Tötungsvorsatz zum Zeitpunkt der Tathandlung nicht hinreichend festgestellt sei. Voraussetzung für die Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Tat sei nach § 16 I StGB, dass der Täter die Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, bei ihrer Begehung kennt. Dementsprechend müsse der Vorsatz im Zeitpunkt der zum Taterfolg führenden Handlung vorliegen. Fasse der Täter den Vorsatz erst später (dolus subsequens), komme eine Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Tat nicht in Betracht. Aus der Notwendigkeit, dass der Vorsatz bei Begehung der Tat vorliegen muss, folge, dass sich wegen eines vorsätzlichen Delikts nur strafbar macht, wer ab Entstehen des Tatentschlusses noch eine Handlung vornimmt, die in der vorgestellten oder für möglich gehaltenen Weise den tatbestandlichen Erfolg – bei Tötungsdelikten den Todeserfolg – herbeiführt. Das Landgericht habe einen bedingten Tötungsvorsatz erst – wie sich aus der Wendung ‚Spätestens jetzt (…)‘ ergebe – für den Zeitpunkt festgestellt, als A bei Rotlicht zeigender Ampel in den Bereich der Kreuzung einfuhr, also zu einem Zeitpunkt, als er ‚absolut unfähig‘ gewesen ist, ‚noch zu reagieren‘, sodass ‚ein Vermeidungsverhalten objektiv nicht mehr möglich‘ gewesen sei. Die für den Unfall maßgeblichen Umstände, insbesondere die bereits erreichte Kollisionsgeschwindigkeit sowie das Einfahren in den Kreuzungsbereich trotz roten Ampelsignals, lagen danach bereits vor bzw. waren unumkehrbar in Gang gesetzt, als die Angeklagten und damit auch A – nach den Feststellungen – den Tötungsvorsatz fassten. Damit fehlt es an der Simultaneität von Tötungsvorsatz im Zeitpunkt des Versuchsbeginns, der nach den Feststellungen erst begann, als A und B die Entwicklung des weiteren Geschehens bereits unverhinderbar aus den Händen gegeben hatten. In der Neuauflage des Prozesses ist eine andere Kammer des LG Berlin jedoch davon ausgegangen, dass A schon früher den bedingten Tötungsvorsatz gefasst habe, nämlich bereits ca. 90m vor dem Scheitelpunkt der Kreuzung, was unter anderem dadurch belegt sei, dass A dort noch einmal Vollgas gegeben habe und sodann auf die Kreuzung zugefahren sei (auch hierzu die Falllösung Rn. 104).
Ein interessantes und klausurträchtiges Beispiel für die Problematik des dolus subsequens liefert auch ein aktueller Fall des BGH aus dem Bereich der Vermögensdelikte, der noch einmal Anlass dazu gibt, sich die Prüfung einer Wahlfeststellung zu vergegenwärtigen. Dazu folgender
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Fall 5: Die auf Raubtaten spezialisierten A und zwei Mittäter drangen in das Haus der Eheleute R ein und schlugen diese jeweils heftig, um erwarteten Widerstand zu brechen, insbesondere auch gegen Kopf und Gesichtsbereich, und würgten die Geschädigten. Anschließend fesselten sie die Eheleute mithilfe mitgeführter Kabelbinder und forderten R auf, die Schlüssel zu einem sich im Keller befindenden Tresor auszuhändigen, was R vehement verweigerte, da im Tresor Waffen und Munition lagerten. Hierauf wendeten A und seine Mittäter erneut Gewalt gegen R an, um seinen Willen zu brechen, insbesondere Schläge und Tritte gegen den Kopfbereich. Daraufhin verriet R aus Angst um sein Leben und das seiner Ehefrau den Aufbewahrungsort der Schlüssel. Die Mittäter knebelten die Eheleute R durch Umwicklung des gesamten Kopfes im Bereich der Münder mit Klebeband. Sodann öffneten sie im Keller den Tresor mit den erlangten Schlüsseln und entnahmen unter anderem 30.000 Euro Bargeld und die dort gelagerten Waffen samt Munition. Anschließend ließen sie die Eheleute R in deren – von ihnen erkannten – hilflosen Lage zurück, wobei sie bemerkten, dass die Geschädigten potentiell lebensgefährlich verletzt waren, und billigend in Kauf nahmen, dass diese nicht gefunden werden könnten. Dabei war ihnen klar, dass diese ohne Hilfe „erbärmlich aus dem Leben scheiden würden“, was den Tätern aber gleichgültig war. Der Tod der Eheleute kam ihnen als mögliche Tatfolge gelegen, um unmittelbare Zeugen der vorangegangenen Tat auszuschalten und die Entdeckung zu verhindern. Es konnte nicht geklärt werden, ob die Täter bereits bei den Schlägen mit Tötungsvorsatz handelten oder ob ihnen die Lebensgefahr für die Opfer erst bewusst wurde, als sie vom Tresor zurückkehrten und die Eheleute bereits geknebelt am Boden lagen. Die Eheleute überlebten. Strafbarkeit der Beteiligten? (Brutalraub-Fall nach BGH NStZ-RR 2020, 79[24])
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Lösung:
Erste Sachverhaltsvariante: Bereits bei den Schlägen lag bedingter Tötungsvorsatz vor
A. Das Verhalten bis zur Rückkehr vom Tresor
I. Gegeben ist hier eindeutig ein versuchter Totschlag nach §§ 212, 22, 23 StGB.
II. Ebenso liegt ein versuchter Mord aus Habgier und in Ermöglichungsabsicht vor, da es den Tätern um die Erlangung eines Vermögensvorteils um jeden Preis, selbst um den Preis eines Menschenlebens ging. Auch wollten sie hierdurch die Begehung eines Raubes ermöglichen. Dass dabei die Gewaltanwendung im Rahmen des versuchten Tötungsdelikts mit derjenigen des Raubes zeitlich zusammenfällt, ändert nichts an der Ermöglichungsabsicht hinsichtlich einer anderen Straftat.[25] Darüber hinaus ändert auch das Vorliegen eines Eventualvorsatzes nichts an der Möglichkeit des Vorliegens einer Ermöglichungsabsicht. Denn der Tod des Opfers muss nicht als Mittel zur Ermöglichung einer Straftat eingesetzt werden; vielmehr genügt es, dass der Tod Folge der ermöglichenden Handlung ist.[26]
III. Der ebenfalls verwirklichte § 221 I Nr. 1 StGB (hier Versetzen in eine hilflose Lage) durch Schläge und Knebelung tritt als bloßes Gefährdungsdelikt hinter den versuchten Mord zurück, da dessen Unrechtsgehalt im Versuch des Erfolgsdelikts bereits vollständig enthalten ist.
IV. Verwirklicht ist auch ein Raub nach § 249 StGB. Jedenfalls gilt dies, wenn man mit dem BGH für die Abgrenzung zwischen Raub und räuberischer Erpressung auf das äußere Erscheinungsbild „Wegnehmen oder Weggeben“ abstellt.[27] Dagegen hebt die Literatur zum Teil für die Abgrenzung zur räuberischen Erpressung auf die innere Willensrichtung des Opfers ab.[28] Danach setzt die Erpressung wie der Betrug als Selbstschädigungsdelikt eine Vermögensverfügung des Genötigten voraus. Entscheidend ist danach, ob der Gewahrsam in dem Sinne freiwillig übertragen wird, dass das Opfer den Gewahrsamsübergang für vermeidbar hält. Da sich das Geld vorliegend im Tresor befand, ist dies prinzipiell zu bejahen. Geld oder Leben bedeutete vorliegend daher tatsächlich Geld oder Leben und nicht Geld oder Geld und Leben (vgl. Jäger, BT, Rn. 554). Nach