II. Zur Überprüfbarkeit kriminologischer Theorien
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Erklären (→ § 2 Rn 8 f.) meint, beobachtete Regelmäßigkeiten von Ereignissen und die kausalen Beziehungen zwischen ihnen einer Theorie zuzuordnen.2 So könnte die Beobachtung, dass heute in X-land trotz gleicher Bevölkerungsgröße [80] mehr Straftaten registriert werden als vor zehn Jahren, mit der inzwischen gestiegenen Arbeitslosigkeit zusammenhängen. Bei der Erklärung wird zunächst eine Aussage („Registrierte Kriminalität hängt mit gemeldeter Arbeitslosigkeit zusammen“) aufgestellt, die einen solchen Zusammenhang behauptet und empirisch überprüfbar ist (durch Vergleich der Registrierungen von Kriminalität und der Arbeitslosigkeit heute mit den Daten von vor zehn Jahren). Diese Aussage wird als Hypothese bezeichnet. Die Hypothese formuliert eine Beziehung (Grund-Folge-Relation) zwischen dem Effekt Kriminalität und den diesen Effekt mutmaßlich bedingenden davon unabhängig existierenden Faktoren. Die bedingenden Faktoren werden unabhängige Variablen, der dadurch bewirkte Effekt abhängige Variable genannt. Dann wird mit empirischen Forschungsmethoden überprüft, ob die Hypothese mit der sozialen Wirklichkeit übereinstimmt.3
„Warum platzte über Nacht der Kühler meines Autos? Der Tank war bis an den Rand mit Wasser voll; der Deckel war fest verschlossen; es war kein Anti-Frost-Mittel eingefüllt worden; der Wagen stand im Hof; die Temperatur sank während der Nacht wider Erwarten auf einige Grade unter Null. Dies waren die Antecedensdaten. In Verbindung mit den Gesetzen der Physik – insbesondere dem Gesetz, dass sich das Volumen von Wasser ausdehnt, wenn es gefriert – erklären sie, dass der Kühler geplatzt ist. Mit der Kenntnis der Antecedensdaten und der Gesetze hätten wir das Ereignis mit Sicherheit voraussagen können. Dies ist in der Tat ein gutes Beispiel für eine Erklärung.“4
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Die erklärende retrospektive Annahme, das erhöhte Kriminalitätsvorkommen stehe mit der inzwischen gestiegenen Arbeitslosigkeit in Zusammenhang, lässt sich zwanglos in die prospektive prognostische Aussage umkehren, dass bei weiter steigender Arbeitslosigkeit vermutlich auch die Kriminalität weiter zunehmen werde. Daraus wird die praktische Bedeutung kriminalätiologischer Aussagen deutlich: Eine zureichende Ursachenerklärung gibt die Grundlage für eine Kriminalitätsprognose (→ § 10 Rn 26 ff.) und damit für ein Kriminalitätsvorbeugungsprogramm ab.5
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Doch Vorsicht: Wir sollten uns an die vom Kritischen Rationalismus bezeichneten Grenzen erfahrungswissenschaftlicher Realitätserfassung (→ § 3 Rn 6 ff.) und an die insoweit beschränkte Verwertbarkeit von am Erklärungsmodell [81] orientierten empirischen „Sozialdaten“ (→ § 3 Rn 12) für die praktische Kriminalpolitik erinnern, um diesen Gedanken nicht zu überzeichnen. Empirische Belege für theoretische Annahmen über das Zustandekommen, die Entwicklung und die Verbreitung kriminellen Verhaltens können die Kriminalitätsentstehung nicht definitiv „klären“. Empirisch erweisbar ist nur die Widerlegung, nicht die Bestätigung einer Theorieannahme. Die Erfahrungsübereinstimmung einer Hypothese besagt bloß, dass die Vermutung ihrer Wahrheit in den veranstalteten Erfahrungstests nicht entkräftet wurde, die Hypothese also in einem vorläufigen, mit prinzipiellen Irrtumsmöglichkeiten behafteten Sinne als bestätigt anzusehen ist. Kriminalätiologische Aussagen bleiben allemal Wahrscheinlichkeitsannahmen, deren „Wahrheit“ empirisch nicht endgültig beweisbar ist.
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Demgemäß ist es unmöglich, die „letztlichen“ oder „eigentlichen“ Ursachen der Kriminalität erfahrungswissenschaftlich auszumachen.6 Kriminalätiologische Theorien können nur Faktoren benennen, deren kausaler Zusammenhang mit kriminellem Verhalten einstweilen mehr oder weniger gut auf kontrollierte Beobachtung gestützt werden kann. Die Feststellung eines solchen Zusammenhanges lässt lediglich die probabilistische Aussage zu, dass bei bestimmten Ausgangsbedingungen die Wahrscheinlichkeit späteren Auftretens bestimmter Kriminalitätsphänomene größer ist als bei Fehlen dieser Ausgangsbedingungen. Nicht hingegen lässt sich daraus ableiten, die Kriminalitätsphänomene seien durch die Ausgangsbedingungen in einem strengen Sinne verursacht. Eine solche unzulässige Verwechslung von Korrelation mit Kausalität liefe auf den induktiven Fehlschluss post hoc, ergo hoc (weil Ereignis X nach Ereignis Y gehäuft auftritt, wurde Ereignis X durch Ereignis Y bewirkt) hinaus.
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Induktionen – also Schlüsse von erfahrungsgestützten Einzelaussagen auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten – sind nicht logisch zwingend. Wenn wir beobachten, dass Schwäne weiß gefiedert sind und Gefangene aus armen und zerrütteten Familien stammen, neigen wir zu generalisierenden Aussagen wie: Alle Schwäne sind weiß, sämtliche Strafgefangene entstammen armen und zerrütteten Familien. Solche Aussagen bezeichnen nicht Gesetzmäßigkeiten, sondern enthalten bloß einstweilen durch Erfahrung gestützte Hypothesen, die an neu zu gewinnender Erfahrung scheitern können. Mit der Beobachtung eines schwarzen Schwans oder der Feststellung, dass es Strafgefangene aus reichen und intakten Familien gibt, werden die vorläufig bestätigten Hypothesen widerlegt.7 Stets ist [82] mit der Widerlegung auf Erfahrung beruhender Annahmen über die Kriminalitätsentstehung zu rechnen. Die Suche nach den „eigentlichen“, „letzten“ Kriminalitätsursachen ist deshalb unnütz. Diese Frage zu stellen, hieße, mit Ursachen zu rechnen, die kriminelles – wie überhaupt menschliches – Handeln in einem zwingenden Sinne, nicht nur im Sinne statistischer Wahrscheinlichkeit, determinierten. Richtig verstanden, behaupten kriminalätiologische Theorien deshalb keine zwingende Determiniertheit kriminellen Verhaltens durch bestimmte Ursachen, sondern nur einen einstweilen unwiderlegten statistisch begründbaren Wahrscheinlichkeitszusammenhang von Kriminalität mit bestimmten Einflussfaktoren.
14 Diese Einsicht relativiert die Erklärungskraft entsprechender vor allem ätiologischer Theorien. Die Feststellung bestimmter Zusammenhänge schließt nämlich prinzipiell nicht aus, dass es andere Zusammenhänge im Sinne intervenierender Variablen8 gibt, die nicht geprüft wurden und die unter Umständen vom gewählten theoretischen Ausgangspunkt her gar nicht überprüfbar sind. Die Beobachtung, dass Kinder und Jugendliche mit großen Füßen statistisch über eine höhere Intelligenz als solche mit kleinen Füßen verfügen, lässt keinen Schluss von der Schuhgröße auf die Intelligenz zu, weil dabei das Alter als intervenierende Variable unberücksichtigt bleibt, das sowohl die Schuhgröße wie die Entwicklung der Intelligenz beeinflusst. Erfahrungsgestützte Theorien sind nichts weiter als Orientierungen des Verstandes, welche die freie Assoziation disziplinieren, indem sie diese in eine bestimmte Richtung lenken – und damit von anderen gleichermaßen konsistent verfolgbaren Denkrichtungen entfernen. Nicht die Theorien, sondern nur die mit Hilfe der Theorien erbrachten Erklärungen können wahr oder falsch sein. Erfahrungsgestützte Theorien erweisen sich bei der Anwendung als mehr oder weniger plausibel und brauchbar, um getätigte Wahrnehmungen zu interpretieren und sinnvolle Zusammenhänge zwischen Einzelbeobachtungen herzustellen.
III. Reichweite und Synthese der Theorien
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Genau genommen suggeriert der