228
Bei der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe ist ein Härteausgleich für erledigte, an sich gesamtstrafenfähige Vorstrafen im Wege der Vollstreckungslösung zu gewähren. Das kann dazu führen, die besondere Schwere der Schuld zu verneinen oder den als vollstreckt geltenden Teil der Strafe auf die Mindestverbüßungsdauer i.S.d. § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB anzurechnen[79].
d) Beurteilungsspielraum
229
Bei der Frage der besonderen Schuldschwere ist dem Tatrichter ein Bewertungsspielraum eingeräumt[80]. Dem Revisionsgericht ist bei der Nachprüfung der tatgerichtlichen Wertung eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle verwehrt. Es hat sich auf die Prüfung zu beschränken, ob das Tatgericht alle maßgeblichen Umstände berücksichtigt und rechtsfehlerfrei abgewogen hat; es ist aber gehindert, die Wertung des Tatgerichts durch seine eigene Wertung zu ersetzen[81].
e) Verteidigungsanstrengungen zur Frage der Schuldschwere
230
Neuerdings gewinnt man den Eindruck, dass die Verhängung eines „einfachen“ Lebenslänglich zum Ausnahmefall geworden ist. Kaum ein spektakuläres Mordverfahren, in dem nicht die StA den Ausspruch der besonderen Schuldschwere verlangt und das Gericht dem auch nachkommt. Eine Verurteilung wegen Mordes ohne die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld gilt als „Lebenslänglich 2. Klasse“; erst die Schuldschwerefeststellung scheint die Bezeichnung als „echtes“ Lebenslänglich zu rechtfertigen[82]. Die Gerichte können dem öffentlichen Druck, der auch vonseiten der verstärkt mitwirkenden Nebenklage kommt, kaum standhalten. Die konturenlose Gesetzesfassung des § 57a StGB und der durch den BGH anerkannte Beurteilungsspielraum macht es den Gerichten allerdings auch leicht, ohne sonderliche Gewissensbisse oder gar ein erhöhtes Revisionsrisiko der Erwartung der Medien oder der Öffentlichkeit nachzugeben. Die Verteidigung sollte bemüht sein, auch auf der medialen Seite ein Gegengewicht zu schaffen. Öffentliche Erklärungen sollten genutzt werden, die Diskussion um die besondere Schuldschwere durch Darstellung aller rechtlichen Voraussetzungen und Barrieren zu versachlichen.
231
Steht die Verurteilung zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe im Raum, sind im Regelfall Ausführungen zur Frage der besonderen Schuldschwere im Schlussvortrag unerlässlich. Alle entlastenden Umstände können Gewicht erlangen, die auch – die absolute Strafandrohung hinweggedacht – gem. § 46 StGB zur Reduzierung einer zeitigen Strafe beitragen könnten. Aber bereits im Vorfeld, etwa bei der Beratung des Mandanten bezüglich der Einlassung, ist sorgfältig zu prüfen, ob mit Blick auf § 57a StGB besonderer Erklärungs- oder Nachermittlungsbedarf besteht. Auch an eine nach § 257c Abs. 1 S. 1, Abs. 2 StPO wohl zulässige[83] Verständigung über die Frage der besonderen Schwere der Schuld ist in geeigneten Fällen zu denken.
f) Isolierte Anfechtbarkeit der Schuldschwerefeststellung
232
Scheitern die Bemühungen der Verteidigung, empfiehlt es sich, etwaige Mängel in der Gewichtung der Schuldschwere im Wege der Revision mit der Sachrüge anzugreifen. Es ist zulässig, die Revision gegen ein Urteil, durch das der Angeklagte zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, entsprechend § 344 Abs. 1 StPO auf den Ausspruch über die besondere Schuldschwere zu beschränken[84]. Die StA kann ihrerseits die Revision auf die Ablehnung der Schuldschwerefeststellung beschränken[85]. Dem Revisionsgericht ist zwar bei der Nachprüfung der gemäß § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB zu treffenden Entscheidung eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle versagt[86]. Zu prüfen ist aber, ob der Tatrichter die ihm obliegende Aufgabe erfüllt hat, die für die Beurteilung des Einzelfalls maßgeblichen Umstände umfassend zu bewerten und im Rahmen einer Gesamtwürdigung von Tat und Täterpersönlichkeit eine Abwägung der für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände vorzunehmen[87].
a) Die Regelüberprüfung
233
Der großen (§ 78b Abs. 1 Nr. 1 GVG) Strafvollstreckungskammer als Vollstreckungsgericht[88] obliegt es sodann (§§ 454, 462a StPO), auf Antrag oder von Amts wegen – ggf. noch vor Ablauf der Verbüßungsfrist des § 454 Abs. 1 S. 4 Nr. 2 lit. b StPO von 13 Jahren – die Voraussetzungen des § 57a StGB zu prüfen[89] und im Falle des Negativentscheids zugleich den Zeitpunkt zu bestimmen, bis zu dem nach der Mindestverbüßungsdauer von 15 Jahren der Schuldschwereaspekt eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung verbietet, also die Vollstreckung fortzusetzen ist[90]. Im Verfahren auf Strafaussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung gem. § 57a StGB ist das Beschleunigungsgebot zu beachten[91].
234
Gem. § 454 Abs. 1 S. 5 StPO bedarf es vor der Aussetzung in jedem Fall der Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Sozial- bzw. Gefährlichkeitsprognose.
235
Bei der Bestimmung der Vollstreckungsdauer auf der Grundlage einer vollstreckungsrechtlichen Gesamtwürdigung des Unrechts- und des Schuldgehalts der mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndeten Tat nach §§ 57a, 57b StGB muss die progressive Steigerung der mit dem Fortschreiten der Zeit und dem Ansteigen des Lebensalters sich ergebenden Straf- und Vollzugswirkung hinreichend beachtet werden[92]. Es kann auch berücksichtigt werden, dass im Erkenntnisverfahren die Einbeziehung der – an sich gesamtstrafenfähigen – Strafe aus einer Vorverurteilung in eine lebenslange Gesamtfreiheitsstrafe daran scheiterte, dass diese vor Erlass des Urteils bereits vollständig verbüßt war[93].
236
Sind mehrere lebenslange Freiheitsstrafen aus verschiedenen Urteilen nacheinander zu vollstrecken und wurde die Vollstreckung der zunächst zu vollstreckenden lebenslangen Freiheitsstrafe nach § 454b Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO unterbrochen, so hat das Gericht die Entscheidungen nach § 57a StGB für beide Strafen gleichzeitig zu treffen, und zwar aufgrund einer Gesamtschau, bei der für beide Strafen die wegen der besonderen Schwere der Schuld gebotene Vollstreckungsdauer zu bestimmen und die Dauer der Vollstreckung vor der Unterbrechung zu berücksichtigen ist[94].
b) Die Altfälle
237
In den sog. Altfällen, also bei Strafurteilen, die vor dem Beschluss des BVerfG vom 03.06.1992 ergangen sind und deshalb im Hinblick auf die „besondere Schwere“ der Schuld noch keine Feststellungen enthalten, darf das Vollstreckungsgericht im Nachhinein die Aussetzung unter Berufung auf die besondere Schuldschwere ablehnen, muss sich jedoch zur Begründung strikt an die tatsächlichen Feststellungen des erkennenden Gerichts halten[95]. Es darf sogar (auf Antrag des Verurteilten) eine vorgezogene isolierte Entscheidung zur Feststellung bzw. Verneinung der besonderen Schuldschwere treffen[96]. Ob es auch zugunsten des Verurteilten vom Grundurteil abweichende Feststellungen treffen kann, ist umstritten[97].
Anmerkungen
StrVerfStat 2010, 2010, S. 154/155.
Singe,