185
Identisch hat der BGH im Falle eines nach Misshandlungen verstorbenen Behinderten argumentiert. Die Täter hatten dessen Leiche in einem Gebüsch abgelegt, wo sie einige Zeit danach aufgefunden wurde. Angesichts der fortgeschrittenen Verwesung konnte eine Todesursache pathologisch-anatomisch nicht mehr festgestellt werden. Als wahrscheinliche Todesursachen kamen den Ausführungen des gerichtsmedizinischen Sachverständigen zufolge eine Hirnblutung mit progredienter Eintrübung, eine Darmverletzung mit nachfolgender Entzündung oder innere Verletzungen der Bauchorgane mit verzögertem Verbluten oder zweizeitiger Blutung, verursacht durch die vorangegangenen Schläge, in Betracht, aber auch eine allgemeine Sepsis, ausgelöst durch offene Wunden älteren Ursprungs. Das SchwurG hatte sich an einer Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts oder wegen Körperverletzung mit Todesfolge gehindert gesehen, weil es nicht ausschließen wollte, dass früher zugefügte Verletzungen und der aufgrund mangelnder Ernährung und einer Sepsis zunehmend schlechte Allgemeinzustand letztendlich todesursächlich waren. Der BGH hat dies beanstandet, weil – gemessen an den Urteilsfeststellungen und dem mitgeteilten Inhalt der rechtsmedizinischen Gutachten – die Annahme einer Sepsis als Todesursache sich als bloße fernliegende hypothetische Möglichkeit darstelle, für die nichts spreche[12]. Im Übrigen seien Überlegungen zu vermissen, ob nicht die durch die Angeklagten später zugefügten Verletzungen zu dem keine zwei Tage später eingetretenen Tod beigetragen und den Todeseintritt zumindest durch weitere Schwächung des Körpers und fehlende Flüssigkeitsaufnahme begünstigt, möglicherweise sogar beschleunigt[13] haben können. Im Strafrecht genüge eine Mitursächlichkeit in diesem Sinne für die haftungsbegründende Kausalität des Täterhandelns[14].
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Ähnlich las sich die Begründung des BGH in einem Fall, in dem der Angeklagte wegen Totschlags zum Nachteil seines 2½ Monate alten schwerstbehinderten Sohnes verurteilt worden war. Der Angeklagte hatte den Kopfausschnitt einer Baby-Tragetasche, in der das Kind lag, mit Wolldecken möglichst luftdicht abgedeckt, sodass nach Auffassung des Gerichts das Kind, wie vom Angeklagten beabsichtigt, erstickte. Der Säugling litt seit seiner Geburt an dem sog. Apert-Syndrom mit schweren Missbildungen am Kopf sowie an den Händen und Füßen. Seine Atmung musste operativ stabilisiert werden. Auch lagen Hinweise auf Hirnfehlbildungen vor. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte der Junge nur das Kleinkindalter erreicht. Nachdem das Ermittlungsverfahren ohne Anhaltspunkte für einen unnatürlichen Tod zunächst eingestellt worden war, offenbarte sich der Angeklagte freiwillig den Ermittlungsbehörden.
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Obwohl medizinisch nicht sicher auszuschließen war, dass das Kind, bei dem früher plötzliche Atemstillstände (Apnoen) aufgetreten waren, aufgrund seiner Missbildungen und einer chronischen Lungenentzündung auch an einem spontanen zentralen Atemversagen verstorben sein konnte, hat der BGH die Verurteilung des Vaters wegen Totschlags bestätigt und die Feststellung gebilligt, das Kind sei – manipulationsbedingt – durch die Anreicherung der eingeatmeten Luft mit Kohlendioxid und dem gleichzeitig sinkenden Sauerstoffanteil erstickt. Die vom Tatrichter gezogenen Schlussfolgerungen brauchten nicht zwingend zu sein; es genüge vielmehr, dass sie möglich seien und der Tatrichter von ihrer Richtigkeit überzeugt sei. Allein die theoretische Möglichkeit, dass das Kind in der Zeit zwischen dem Auflegen der Decken und der letztlich tödlich wirkenden Verknappung des Sauerstoffs in der Atemluft hiervon unabhängig an einem spontanen zentralen Atemversagen verstorben sein könnte, ändere hieran nichts.
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Wenn der Tatrichter die theoretische Möglichkeit für außerordentlich fernliegend erachtet habe, dass bei dem Kind eine Vorschädigung des Atemzentrums ausgerechnet am Tattag genau in dem Zeitraum einen spontanen zentralen Atemstillstand herbeigeführt habe, während die Tragetasche zur Einleitung des Erstickungsvorgangs vom Angeklagten abgedeckt worden war, so sei diese Bewertung rechtlich nicht zu beanstanden[15].
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Der Streit um die genaue Todesursache als Anknüpfungspunkt für strafrechtliche Verantwortung kann es erforderlich machen, noch im Revisionsverfahren wissenschaftliche Abhandlungen oder Gutachten vorzulegen, die erkennen lassen, dass das Tatgericht womöglich gesicherte medizinische Kenntnisse außer Betracht gelassen oder den Sachverhalt nicht erschöpfend aufgeklärt hat[16].
3. Naturwissenschaftliche „Restzweifel“ und der „in dubio“-Grundsatz
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In Fällen, in denen am Kausalzusammenhang zwischen der Handlung des Tatverdächtigen und dem Todeseintritt in seiner konkreten Form aus medizinischer Sicht letzte Zweifel verbleiben, stellt sich die grundsätzliche Frage, in welcher Weise und ob der Zweifelsgrundsatz überhaupt Anwendung findet. Der typische Ausgangsfall:
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Der erheblich alkoholisierte Angeklagte und die ebenfalls stark angetrunkene und zusätzlich unter dem Einfluss verschiedener Medikamente stehende Geschädigte waren in der gemeinsamen Wohnung in einen längeren Streit geraten. Die Geschädigte hatte sich in das Schlafzimmer zurückgezogen, der Angeklagte war ihr gefolgt. Auf dem Bett kam es zu einem Gerangel, in dessen Verlauf der Angeklagte das Gesicht der bäuchlings liegenden Frau von hinten mindestens einige Sekunden, jedenfalls aber so lange auf das Kopfkissen drückte, bis sie keinen Laut mehr von sich gab. Er tat dies, um die Frau, die laut schimpfte und schrie, zur Ruhe zu bringen. Im zeitlichen Zusammenhang mit diesem Geschehen verstarb die Geschädigte.
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Nach Auskunft des medizinischen Sachverständigen kam als Todesursache sowohl eine „spurenarme Tötung“, ein Erstickungstod zusammen mit der Alkoholbeeinflussung oder allein die Alkoholbeeinflussung zusammen mit der Medikamentenaufnahme in Betracht. Die ersten beiden, den Angeklagten belastenden Alternativen, hat der Sachverständige als „möglich“ und „denkbar“ bezeichnet. Demgegenüber hat er es als „nicht nahe liegend“ bezeichnet, dass der Alkohol- und Medikamenteneinfluss allein ohne eine Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr tödlich gewesen sei, da bei der trinkgewohnten Geschädigten eine weit höhere als die tatsächlich festgestellte BAK nötig gewesen sei, um tödlich zu wirken. Es sei jedoch gleichwohl „nicht auszuschließen“, dass allein die Alkoholisierung im Zusammenwirken mit dem Medikamenteneinfluss eine Atemstörung verursacht und dadurch die Todesursache gesetzt habe. Diesen Ausführungen folgend ist das LG allein mit dem Hinweis darauf, es könne nicht festgestellt werden, wie lange das Anpressen des Kopfes des Opfers gegen das Kissen gedauert habe, von der letzten, fernliegenden Möglichkeit ausgegangen.
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Der BGH hat beanstandet, dass das Gericht mit der Entscheidung für die unverfänglichste Sachverhaltsvariante den Grundsatz „in dubio pro reo“ rechtsfehlerhaft angewendet habe.
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Der Zweifelssatz sei eine Entscheidungsregel, die das Tatgericht erst dann anzuwenden habe, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung vom Vorliegen einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch unmittelbar entscheidungserheblichen Tatsache zu gewinnen vermag[17]. Das LG hätte deshalb vor Anwendung des Zweifelssatzes eine umfassende Würdigung aller relevanten tatsächlichen Umstände vornehmen müssen. Zu erwägen gewesen wäre, dass das Opfer bereits längere Zeit Alkohol- und Medikamentenmissbrauch betrieben habe, ohne in lebensbedrohliche Situationen zu geraten. Dann aber widerspreche es der allgemeinen Lebenserfahrung, dass die Geschädigte