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In den meisten Verwaltungsrechtsordnungen Europas konnte der Gesetzgeber, an die richterrechtliche Entfaltung des Verwaltungsrechts anknüpfend, grundlegende Bereiche oder allgemeine Teile des Verwaltungsrechts kodifizieren.[21] Er ging dabei äußert behutsam zu Werke und beschränkte sich – aus nachvollziehbarem Respekt vor der Vielfältigkeit und Unüberschaubarkeit der Materie – in der Regel auf die Nachzeichnung der in der Praxis entwickelten und einigermaßen etablierten Institute. In ähnlicher Weise wird bei Novellierungen des Allgemeinen Verwaltungs- bzw. Verwaltungsverfahrensrechts verfahren. In Frankreich ist der Respekt vor dem Richterrecht so groß, dass von einer Kodifizierung sogar eine Bedrohung der historisch gewachsenen und allgemein akzeptierten Rolle des Conseil d’État befürchtet wird.[22]
aa) Grundlagen des Systemdenkens
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Die Vorstellung von der Verwaltung als einer besonderen Staatsfunktion und des Verwaltungsrechts als ihrer Handlungsgrundlage sowie der Verfassung als dem rechtlich bestimmenden Bezugsrahmen auch für das Verwaltungsrecht erlauben es, das Verwaltungsrecht als eine einheitliche Materie zu verstehen, der gemeinsame Grundsätze und Prinzipien zu eigen sind und die sich von anderen Rechtsgebieten unterscheidet. Dies hat zugleich ein Ordnungs- und Systemdenken ermöglicht, das sich auch in den oben genannten Kodifikationen niedergeschlagen hat.[23]
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Ein wesentlicher Aspekt dieses Systems besteht in der Unterscheidung des Verwaltungsrechts (als Teil des öffentlichen Rechts) vom Zivilrecht. Diese für die kontinentaleuropäischen Verwaltungsrechtsordnungen kategoriale Unterscheidung reicht in ihren Wurzeln bis in das römische Recht zurück[24] und ist nach wie vor nicht nur von grundlegender, sondern auch von erheblicher praktischer Bedeutung. Das gilt etwa für die Zuständigkeitsabgrenzung der Verwaltungsgerichte (z.B. § 40 VwGO) oder für die Zuordnung der Handlungsformen.
bb) Erosionen
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Die Privatisierungen der letzten Jahrzehnte und der Rückzug des Staates aus seiner Erfüllungsverantwortung haben das verwaltungsrechtliche Ordnungs- und Systemdenken allerdings zunehmend unter Druck gesetzt, weil sich die Einheit von Staat und Verwaltung vor diesem Hintergrund immer häufiger als – wenn auch verfassungsrechtlich vorgegebenes – kontrafaktisches Postulat erweist. Das hat zur Folge, dass die prätorische Konkretisierung der Rechtslage im Einzelfall Steuerungskraft und Wirkmächtigkeit verwaltungsrechtlicher Systeme zunehmend in den Hintergrund drängt.
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Ferner hat der mit der Privatisierung zusammenhängende Einsatz von Verträgen und anderen Formen konsensualen Verwaltungshandelns die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht ein Stück weit eingeebnet und damit letztlich auch eine Relativierung verwaltungsrechtlicher Vorgaben bewirkt.[25]
3. Konvergenztendenzen und ihre Ursachen
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Ungeachtet aller Pfadabhängigkeit lassen sich zwischen den Verwaltungsrechtsordnungen im europäischen Rechtsraum doch unübersehbare Konvergenztendenzen ausmachen, ohne dass damit einer undifferenzierten „Konvergenzeuphorie“[26] das Wort geredet werden soll. Sabino Cassese spricht insoweit von einer „Osmose“ zwischen den unterschiedlichen Typen des Verwaltungsrechts.[27] Ausdruck dieser Konvergenz sind neben einer kontinuierlichen Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts (dazu unter a) seine schrittweise Subjektivierung und Demokratisierung (dazu unter b), Europäisierung und Internationalisierung (dazu unter c).
a) Konstitutionalisierung
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Nahezu alle Verwaltungsrechtsordnungen Europas haben nach dem Zweiten Weltkrieg – wenn auch mit zeitlichen und inhaltlichen Unterschieden – eine Konstitutionalisierung ihres Verwaltungsrechts erlebt, die dieses zwar vielleicht nicht seines Selbststands beraubt, jedoch den (jeweiligen) verfassungsrechtlichen Anforderungen nachhaltig untergeordnet hat.[28]
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In Deutschland hat diese Konstitutionalisierung nach 1949 geradezu zu einer Neukonzeption des Verwaltungsrechts geführt und das berühmt-berüchtigte Diktum Otto Mayers von 1924, wonach „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“,[29] unter Rückgriff auf Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG überwunden und durch die Doktrin vom Verwaltungsrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht[30] ersetzt.[31] Das dürfte – mutatis mutandis – heute für die Mehrzahl der europäischen Verwaltungsrechtsordnungen gelten.[32]
aa) Allgemeines
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Zur Konvergenz der Verwaltungsrechtsordnungen trägt auch eine veränderte Stellung des Einzelnen mit Blick auf die öffentliche Verwaltung bei. In Frankreich taucht sie, wenn auch noch in einer eher diffusen Weise, bereits in der in den 1920er-Jahren entwickelten Konzeption des service public auf. Ihr liegt ein Paradigmenwechsel im Verwaltungsrecht zugrunde, das den Einzelnen fortan nicht mehr als Untertanen, sondern als mit Rechten versehenen Empfänger einer Dienstleistung begreift.[33] In Deutschland vollzieht sich nach 1949 eine vergleichbare Entwicklung auf der Grundlage der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG, die nach und nach auch in der kleinen Münze des Verwaltungsrechts im Einzelfall erfahrbare Bedeutung erlangt.[34]
bb) Dogmatische Einkleidung
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Praktisch greifbar wird die Subjektivierung des Verwaltungsrechts vor allem in dem von der Konstitutionalisierung getriebenen Ausbau subjektiver öffentlicher Rechte, der Stärkung der Position des Einzelnen im Verwaltungsverfahren und im Verwaltungsgerichtsverfahren sowie bei der Etablierung von Verwaltungsverträgen. In Deutschland geschieht dies vor allem auf der Basis der in Art. 1 bis 19 GG verbrieften Grundrechte, [35] in Italien nach Maßgabe der schon im 19. Jahrhundert angelegten und für den Rechtsschutz prägenden Dialektik zwischen subjektiven Rechten (diritti soggetivi) und rechtlich geschützten Interessen (interessi leggitimi).[36]
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Zu den jüngeren, durch das Unionsrecht zusätzlich verstärkten[37] Erträgen dieser Entwicklung gehört auch die Rekonstruktion des Staatshaftungsrechts aus der Perspektive der (Grund-)Rechte und rechtlich geschützten Interessen. In vielen europäischen Verwaltungsrechtsordnungen war bzw. ist es ein langer und dorniger Weg von der Annahme, dass es im politischen Ermessen der öffentlichen Hand stehe, Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche gegenüber der öffentlichen Hand zu gewähren, bis zu der Einsicht, dass derartige Kompensationsansprüche eigentlich nur ein „Minus“ zur Gewährleistung eines effektiven Primärrechtsschutzes sind und insoweit unmittelbar aus den (Grund-)Rechten und rechtlich geschützten Interessen fließen.[38] In Deutschland steht dieser Erkenntnisprozess noch am Anfang.[39]
cc) Erweiterung der Partizipationsmöglichkeiten
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Verstärkt werden die Konvergenztendenzen durch soziologische Veränderungen in den europäischen Gesellschaften, die der Neujustierung des Verhältnisses zwischen Bürger und Verwaltung zusätzlichen Nachdruck verleihen. So sind etwa das erheblich gestiegene Bildungsniveau der Bürger, die Vervielfachung der Kommunikationsmöglichkeiten über das Netz und die damit einhergehenden Vergleichsmöglichkeiten