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Art. 104 Abs. 4 GG enthält mit der Benachrichtigungspflicht schließlich eine besondere Ausprägung des rechtsstaatlichen Verfahrens der Freiheitsentziehung. Er soll den Festgenommenen davor schützen, dass er spurlos verschwindet.[503] Daher ist nach Art. 104 Abs. 4 GG von jeder richterlichen Entscheidung über die Anordnung oder die Fortdauer einer Freiheitsentziehung[504] unverzüglich ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen. Dabei ist der Richter dann nicht an die Vorschläge des Festgehaltenen gebunden, wenn anderenfalls eine Gefährdung des Untersuchungszwecks – etwa bei Verdacht der Komplizenschaft – nicht ausgeschlossen werden kann.[505] Ein völliges Absehen von der Benachrichtigungspflicht ist aber auch in diesen Fällen ausgeschlossen.[506] Wiewohl die Benachrichtigung ein subjektives Recht des Festgenommenen ist,[507] stellt Art. 104 Abs. 4 GG zugleich objektives Verfassungsrecht dar, weshalb der Festgehaltene auf die Benachrichtigung nicht verzichten kann. Die Nichtabdingbarkeit der Rechte aus Art. 104 Abs. 4 GG erklärt sich aus der historischen negativen Erfahrung mit Geheimprozessen und dem hohen Risiko von Folter bei einer „incommunicado“-Inhaftierung.[508] Bei der Festnahme eines Ausländers ist gemäß Art. 36 Abs. 1 lit. b S. 1 WÜK[509] unverzüglich die zuständige konsularische Vertretung seines Heimatstaates zu unterrichten, sofern der betreffende Heimatstaat das Abkommen ratifiziert hat. Verstöße hiergegen können nicht nur im Verfassungsbeschwerdeverfahren geltend gemacht werden,[510] sondern ziehen auch Beweisverwertungsverbote nach sich.[511]
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 2 Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Strafrecht › D. Grundrechtlich fundierte strafrechtsrelevante Maximen und Gebote
I. Recht auf ein faires Verfahren
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Über die Anforderungen hinaus, die sich aus Art. 103 Abs. 1 GG ergeben, hat das Bundesverfassungsgericht – anknüpfend an den Sprachgebrauch von Art. 6 Abs. 1 EMRK – aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG, dem Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) und der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) einen Anspruch des Angeklagten auf ein faires rechtsstaatliches und justizförmiges Strafverfahren abgeleitet.[512] Es hat daran solche Beschränkungen gemessen, die von den speziellen verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht erfasst werden.[513] Insbesondere die Menschenwürde erfordere es, dem Angeklagten einen Mindeststandard an aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen zu garantieren, damit er zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Strafverfahrens Einfluss nehmen könne.[514] Das Recht auf ein faires Verfahren erschöpft sich also nicht in der Selbstbeschränkung staatlicher Mittel, sondern gewährleistet dem Betroffenen, prozessuale Rechte mit der erforderlichen Sachkunde wahrzunehmen und Übergriffe der rechtsstaatlich begrenzten Rechtsausübung staatlicher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können.[515] Insgesamt wohnt dem Recht auf ein faires Verfahren also die Idee der Verfahrensbalance inne.[516] In diesem Sinne enthält der Grundsatz des fairen Verfahrens nicht zu übersehende Gemeinsamkeiten mit der Grundrechtsrelevanz von Verfahren.
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Neben dieser Funktion als Prozessgrundrecht versteht das Bundesverfassungsgericht das Recht auf ein faires Verfahren als Leitlinie für den Gesetzgeber und als Auslegungsmaxime für Strafverfolgungsbehörden und Gerichte.[517] Die besonderen rechtsstaatlichen Garantien des Strafverfahrens seien daraufhin zu prüfen, ob sie den Anspruch auf ein faires Verfahren sicherten.[518] Als konkrete Ausprägungen des Rechts auf ein faires Verfahren werden vor allem die Vorschriften der StPO über die notwendige Mitwirkung und die Bestellung eines Verteidigers angesehen.[519] Von Verfassungs wegen erforderlich ist, dass dem Angeklagten jedenfalls in „schwerwiegenden Fällen“ ein Pflichtverteidiger zur Seite gestellt werden muss;[520] dies gilt im Falle notwendiger Verteidigung (§ 140 StPO) auch dann, wenn der Beschuldigte selbst Rechtsanwalt ist.[521] Behörden und Gerichte müssen zudem darauf achten, dass die Pflichtverteidigung wirksam ist.[522] Auch die Hinzuziehung eines Dolmetschers für einen der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Beteiligten beurteilt das Bundesverfassungsgericht nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem aus Art. 20 Abs. 3 GG hergeleiteten Gebot des fairen Verfahrens.[523] Das Recht auf Beiordnung eines kostenlosen Dolmetschers im Strafprozess folgt zudem unmittelbar aus der menschenrechtlichen Parallelnorm des Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK.[524]
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Absprachen und Vereinbarungen im Strafprozess[525] sieht das Bundesverfassungsgericht als mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens und dem Schuldprinzip dann vereinbar an, wenn ein rechtlicher Mindeststandard eingehalten wird. Dazu zählt, dass der Beschuldigte vorher über die begrenzte Bindungswirkung und die Rechtsfolgen von Absprachen belehrt worden ist.[526] Die Grundsätze des fairen Verfahrens schließen aber aus, die Erfüllung der richterlichen Aufklärungspflicht, die Gesetzesauslegung und Strafbemessung ins Belieben und zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts zu stellen. Einem „Handel mit der Gerechtigkeit“ steht die Verfassung entgegen.[527]
II. Gebot der Waffengleichheit
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Der Anspruch auf ein faires Verfahren ist ferner durch das Verlangen nach verfahrensrechtlicher Waffengleichheit von Ankläger und Beschuldigtem gekennzeichnet.[528] Hergeleitet wird das Gebot der Waffengleichheit aus dem Rechtsstaatsprinzip, dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und aus Art. 6 Abs. 3 EMRK.[529] Einigkeit besteht allerdings darin, dass der Begriff missverständlich ist, da völlige Waffengleichheit im Strafverfahren nicht bestehen kann.[530] Verfahrensspezifische Unterschiede in der Rollenverteilung von Staatsanwaltschaft und Verteidigung können nicht in jeder Beziehung ausgeglichen sein.[531] Gesetzliche Aufgabe und Funktion der Staatsanwaltschaft als selbstständiges Organ der Strafrechtspflege verbieten es vielmehr, die im Zivilprozess zum Gebot der Waffengleichheit entwickelten Grundsätze auf den Strafprozess zu übertragen.[532] Anders als im Zivilprozess, in dem sich zwei Parteien gegenüberstehen, ist die Staatsanwaltschaft im Strafverfahren weder materiell noch formell „Partei“, sondern bei ihrer Tätigkeit auf Legalität und Objektivität verpflichtet.[533] Sie hat zu beachten, dass für den Beschuldigten die Vermutung seiner Unschuld streitet und muss ihre Ermittlungen fair führen, damit eine „zuverlässige Wahrheitserforschung“ gewährleistet ist.[534] Insbesondere hat die Staatsanwaltschaft auch die zur Entlastung des Verdächtigen dienenden Umstände zu ermitteln und für die Erhebung der entsprechenden Beweise Sorge zu tragen (§ 160 Abs. 2 StPO).[535]
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Das Gebot der Waffengleichheit im Strafprozess bedeutet nach dem Vorstehenden also im Wesentlichen zweierlei: Es verpflichtet zum einen den Gesetzgeber, die Rechte des Beschuldigten entsprechend seiner verfahrensrechtlichen Stellung als ein Subjekt mit aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen auszugestalten. Zum anderen enthält es das Gebot an die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte, diese Rechte zu wahren.[536] Damit stellt das Gebot der Waffengleichheit lediglich einen Unterfall des Rechts auf ein faires Verfahren dar.[537] Das geltende Recht entspricht dem Verlangen nach Waffengleichheit in der Hauptverhandlung (§ 244 StPO); im Vorverfahren kommt hingegen der Staatsanwaltschaft ein Übergewicht zu, was zunehmend kritisiert wird.[538]
III. Prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts
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Die prozessuale Fürsorgepflicht der Strafgerichte gegenüber den Beteiligten des Strafverfahrens wird teilweise aus dem Bekenntnis des Grundgesetzes zum sozialen Rechtsstaat (Art. 20 Abs. 2, 3, Art. 28 Abs. 1 GG)[539] oder aus Art. 6 Abs. 1 EMRK hergeleitet,[540] teilweise im Wege einer Gesamtschau und rechtsanalogen