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Unter dem Eindruck der NS-Verbrechen wird die Vorstellung eines unverfügbaren menschlichen Eigenwertes durch die Positivierung der Menschenwürde, verstanden als nicht legal einschränkbares Basisrecht, verstärkt.[242] War das NS-Rechtsdenken eine „Revolte gegen die Aufklärung“, so lässt sich die verstärkte Gewährleistung der Menschenwürde in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) und dem Grundgesetz (1949) in Form eines aller staatlichen Macht vorgelagerten Basiswerts als Bekräftigung eines der Kernprojekte der Aufklärung verstehen.[243]
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Wollte man den Ertrag des Strafrechtsdenkens der Aufklärung in eine Reihe von Konzepten zu fassen versuchen, so würden sich folgende Schlagworte anbieten: (1) Abkehr vom alten, theokratischen und an Vergeltung orientierten Strafverständnis, stattdessen Orientierung an der Humanität als regulativer Idee und kritischem Maßstab des gesamten (Straf-)Rechts, (2) Bekenntnis zu „Vernunft“ im Denken und Handeln. Dazu gehört insbesondere die Betonung von kritischer Rationalität und das Streben nach Widerspruchsfreiheit und Überprüfbarkeit aller dem Denken und Handeln zugrunde gelegten Annahmen. (3) Abkehr von religiösen Erklärungsmustern und den Vorgaben der Theologie (also Säkularität), verbunden mit Vertrauen in die Empirie (bis hin zum erkenntnistheoretischen Naturalismus).
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(4) Zu den rechtsethischen Basiswerten der Aufklärung gehört ferner das Bekenntnis zum menschlichen Wohlergehen als Ziel jeder Gesetzgebung (Eudaimonismus) und zur menschlichen Freiheit (Liberalität). Der Mensch – und zwar „jeder Mensch“ – und sein Glück werden zum Leitwert und Orientierungspunkt der Rechtspolitik. In der Aufklärung werden folgerichtig die ersten Menschenrechtskataloge formuliert und am Ende der Epoche erstmals praktisch in Geltung gesetzt. (5) Damit einher geht der Bedeutungsgewinn teleologischen Denkens: Wenn das Recht dem Menschen, seinem Glück und damit auch dem Gemeinwohl dienen soll, so muss es so konzipiert sein, dass es diesen Zweck erfüllen kann. (6) Auch die Strafe selbst wird als Mittel zu diesem Zweck verstanden. Daraus ergibt sich das Bekenntnis zur Notwendigkeit der Prävention von Straftaten und Besserung des Straftäters. (7) Der Universalismus der Aufklärung drückt sich in der Vorstellung aus, neue Leitideen und Werte nicht bloß für Europa, sondern für die gesamte Menschheit formuliert zu haben. Die Umsetzung dieser Ideen ist auch heute noch nicht abgeschlossen, und wird nie abgeschlossen sein.
2. Abschnitt: Strafrechtsgeschichte › § 6 Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des heutigen Strafrechts in der Aufklärung › Ausgewählte Literatur
Ausgewählte Literatur
Cattaneo, Mario A. | Aufklärung und Strafrecht. Beiträge zur deutschen Strafrechtsphilosophie des 18. Jahrhunderts, 1998. |
Ciafardone, Raffaele (Hrsg.) | Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Deutsche Bearbeitung von Hinske und Specht, 1990. |
Fischl, Otto | Der Einfluß der Aufklärungsphilosophie auf die Entwicklung des Strafrechts in Doktrin, Politik und Gesetzgebung und Vergleichung der damaligen Bewegung mit den heutigen Reformversuchen, 1913, ND 1981. |
Gröschner, Rolf/Haney, Gerhard (Hrsg.) | Die Bedeutung P.J.A. Feuerbachs (1775–1833) für die Gegenwart, 2003 ( ARSP-Beiheft Nr. 87). |
Hattenhauer, Hans | Von Christen, Juden und Menschen. Zum Strafrecht der Aufklärung, GS Conrad, S. 245 ff. |
Hazard, Paul | Die Krise des Europäischen Geistes (franz. 1935), 1939. |
Heidenreich, Bernd/ Göhler, Gerhard (Hrsg.) | Politische Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts. Staat und Politik in Deutschland, 2011. |
Hilgendorf, Eric | Paul Johann Anselm von Feuerbach und die Rechtsphilosophie der Aufklärung, in: Koch/Kubiciel/Löhnig/Pawlik (Hrsg.), Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch, S. 149 ff. |
Luther, Christoph | Aufgeklärt Strafen. Menschengerechtigkeit im 18. Jahrhundert, 2016. |
Maluschke, Günther | Philosophische Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 1982. |
Schmidt, Eberhard | Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965. |
Schmidt, Eberhard | Beiträge zur Geschichte des preußischen Rechtsstaates, 1980. |
Schmoeckel, Mathias | Humanität und Staatsräson. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozess- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, 2000. |
Thoma, Heinz (Hrsg.) | Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung, 2015. |
Vormbaum, Thomas (Hrsg.) | Strafrechtsdenker der Neuzeit, 1998. |
Welzel, Hans | Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. 1962. |
Anmerkungen
Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 1958, 341 ff.; eingehend Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung. Symposium Wolfenbüttel 1981, 1982; Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung (1932), 2007; Heidenreich/Göhler (Hrsg.), Politische Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts. Staat und Politik in Deutschland; Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus (1981), 2002; Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung, 1961; umfassend Thoma (Hrsg.), Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung; aus angelsächsischer Perspektive Gay, The Enlightenment. The Rise of Modern Paganism, 1966; ders., The Enlightenment. The Science of Freedom, 1969; Israel, Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650-1750; 2001; ders., Enlightenment Contested. Philosophy, Modernity, and the Emancipation of Man 1670-1752; 2006; ders., Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750-1790, 2011.
Hilgendorf, „Aufklärung“, in: ders./Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, S. 137 f.
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