G. Feuerbach (1775–1833) und die Begründung der deutschen Strafrechtswissenschaft
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Paul Johann Anselm Feuerbach, seit 1808 „Ritter von“ Feuerbach, bildet die wichtigste Schnittstelle zwischen den (straf)rechtspolitischen Forderungen der Aufklärer und der Strafrechtswissenschaft, wobei besonders hervorzuheben ist, dass Feuerbach sowohl als Strafrechtsreformer als auch als Theoretiker des Strafrechts Hervorragendes geleistet hat.[226] Seine seit den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts erschienenen Schriften, darunter die „Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts“ (1799 und 1800 in zwei Teilen erschienen), sowie das 1801 in erster Auflage publizierte „Lehrbuch des peinlichen Rechts“ begründen die moderne deutsche Strafrechtswissenschaft. Feuerbachs Reformarbeiten als hoher bayerischer Ministerialbeamter folgten den Postulaten der Aufklärung (so etwa die Abschaffung der Folter in Bayern[227]), und beeinflussten die Strafrechtsentwicklung über Deutschland hinaus. Dies gilt insbesondere für das bayerische Strafgesetzbuch von 1813.[228]
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Feuerbach, aus einer Familie von Juristen stammend, studierte ab 1792 zunächst Philosophie in Jena. Besonders beeindruckt wurde Feuerbach durch die damals besonders populären Lehren Kants.[229] Nachdem Feuerbach aber seine spätere Ehefrau kennengelernt hatte und sich Nachwuchs ankündigte, wechselte er zur Jurisprudenz als klassischem „Brotberuf“. In wenigen Jahren absolvierte er seine Studien und wurde bereits 1801 in seiner Studienstadt Jena zum außerordentlichen Professor der Rechte ernannt.
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Immer wieder hat man Feuerbach als Kantianer bezeichnet.[230] Dies ist nicht falsch, aber doch in wesentlicher Hinsicht ungenau: Inhaltlich bestimmte Kant nur für wenige Jahre das Denken Feuerbachs; nicht bloß aus den Positionen seiner späteren Werke, sondern auch aus seinen Briefen geht eindeutig hervor, dass er den „transzendentalphilosophischen“ Einfluss bereits um die Jahrhundertwende abgeschüttelt hatte, wenn er ihm überhaupt je vollständig erlegen war.[231] Dagegen wurde Feuerbachs Denkstil und seine Methode ein Leben lang von dem Königsberger Philosophen bestimmt. Die rechtspolitischen Ideale, die Feuerbach bis zu seinem Lebensende vertrat, sind die der französischen Aufklärung und Beccarias. Dagegen lehnte er die gegen die Aufklärung gerichtete Philosophie nach Kant, vor allem Fichte[232] und Hegel[233], scharf ab.
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Die „bürgerliche Gesellschaft“ versteht Feuerbach als die „Vereinigung des Willens und der Kräfte Einzelner zur Garantie der wechselseitigen Freiheit Aller“. Damit wird auf die Theorie des Gesellschaftsvertrags (s.o. Rn. 36) Bezug genommen. „Eine durch Unterwerfung unter einen gemeinschaftlichen Willen und durch Verfassung organisierte bürgerliche Gesellschaft, ist ein Staat“. Als Zweck des Staates sieht Feuerbach „die Errichtung des rechtlichen Zustandes, d.h. das Zusammenbestehen der Menschen nach dem Gesetze des Rechts.“[234] Im letzten Satz bezieht sich Feuerbach auf Kant[235] und nicht auf eudaimonistische Zielsetzungen wie Gemeinwohl oder Glück. Darin liegt jedoch kein Widerspruch zu den Vorstellungen der Aufklärungsphilosophen, da sich Freiheit und Rechtssicherheit als Voraussetzungen eigener Selbstverwirklichung und Ermöglichung selbstbestimmter „Glücksverfolgung“ verstehen lassen.[236]
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Der Staat darf zur Verhinderung von Rechtsverletzungen physischen Zwang verwenden. Ergänzend will Feuerbach auch psychologischen Zwang einsetzen, der direkt auf das „Begehrungsvermögen“ der Menschen einzuwirken vermag. Die Androhung von Strafe soll einen psychologischen Zwang erzeugen und den auf die Begehung einer Rechtsverletzung hindrängenden Motiven ein Gegenmotiv gegenüberstellen.[237] Dies ist das Kernmotiv von Feuerbachs „Theorie des psychologischen Zwangs“.
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Eng mit der Theorie des psychologischen Zwangs verbunden ist Feuerbachs Eintreten für das Gesetzlichkeitsprinzip und insbesondere den Bestimmtheitsgrundsatz, denn ein „psychologischer Zwang“ kann nur entstehen, wenn die gesetzliche Androhung eines Übels als Folge der Tat vor der eigentlichen Tatbegehung auf die Psyche des Täters einzuwirken vermag. Hinzukommen muss die Sicherheit oder zumindest große Wahrscheinlichkeit einer Vollstreckung der Strafe.
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Daraus ergibt sich für Feuerbach als „höchstes Prinzip des peinlichen Rechts“ folgende Bestimmung von Strafe: „Jede rechtliche Strafe im Staate ist die rechtliche Folge eines durch die Notwendigkeit der Erhaltung äußerer Rechte begründeten, und eine Rechtsverletzung mit einem sinnlichen Übel bedrohenden Gesetzes.“[238]
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Aus diesen Leitprinzip ergibt sich für Feuerbach, dass jede Strafzufügung ein Strafgesetz voraussetzt (Nulla poena sine lege). Des Weiteren ist die „Zufügung einer Strafe bedingt durch das Dasein der bedrohten Handlung (Nulla poena sine crimine).“ Schließlich gilt, dass das Vorliegen einer gesetzlich bedrohten Tat durch die Existenz einer entsprechenden gesetzlichen Strafe bedingt ist („Nullum crimen sine poena legali“).[239] Auf diese Weise wird das Gesetzlichkeitsprinzip aus der Theorie des psychologischen Zwangs hergeleitet.
2. Abschnitt: Strafrechtsgeschichte › § 6 Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des heutigen Strafrechts in der Aufklärung › H. Der Ertrag: Strafrechtsdenken in den Schranken von Humanität und Menschenrechten
H. Der Ertrag: Strafrechtsdenken in den Schranken von Humanität und Menschenrechten
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In der Entwicklung des europäischen Nachdenkens über die Theorie des Strafrechts bildet die Aufklärung eine wesentliche Zäsur. Das willkürliche und grausame Strafrecht der frühen Neuzeit wird mit den Postulaten der Humanität konfrontiert und scharf kritisiert. Der einflussreichste Wortführer dieser Kritik ist ab den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts Voltaire. Beccaria fasst in seinem Werk „Über Verbrechen und Strafen“ (1764) die wesentlichen Forderungen der Aufklärer an die Reform des Strafrechts zusammen. Sie bilden ein humanistisches, an den Menschenrechten orientiertes Reformprogramm.
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Zu den wesentlichen Folgen der von der Aufklärung in die Wege geleiteten „humanistischen Wende“ gehört die Idee, jeder Mensch besäße einen unverlierbaren, von staatlicher Gewährung unabhängigen Eigenwert, an welchem alles staatliche Recht zu messen sei. Dieser Eigenwert drückt sich in der Vorstellung von Menschenwürde und Menschenrechten aus, die sich durch folgende vier Gesichtspunkte charakterisieren lassen[240]:
– | Menschenrechte stehen allen Menschen zu, ungeachtet ihres Standes, ihrer Herkunft oder ihrer Hautfarbe. |
– | Kennzeichnend für das neue Denken in Menschenrechten ist zweitens, dass sie jedem einzelnen Menschen als Individuum zukommen sollen, nicht als Teil einer Gruppe oder eines Standes. |
– | Die neuen Rechte werden drittens als „naturgegeben“ verstanden, d.h. sie sollen jedem einzelnen Menschen kraft Geburt zustehen und nicht von staatlicher Gewährung abhängig sein. |
– | Viertens garantieren die neuen Rechte jedem Einzelnen den Schutz seiner Freiheitssphäre gegen den Staat. Jeder Eingriff in diese Rechte muss begründet werden. |
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