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Ausgangspunkt Beccarias ist die Verpflichtung des Gemeinwesens auf das „größte Glück der größten Zahl“. Dieser von dem Franzosen Helvetius übernommene Gedanke bedeutet nichts anderes, als dass sich der Staat um das Wohlergehen („Glück“) der Menschen zu kümmern habe, und zwar nicht nur um das Wohlergehen einiger weniger (etwa des hohen Adels und des Klerus), sondern um das Glück möglichst vieler (der „größten Zahl“). Das war ein um die Mitte des 18. Jahrhunderts revolutionärer Gedanke.[112] Letzter Orientierungspunkt des Rechts und Maßstab der Rechtskritik ist die Humanität,[113] die Beccaria als „Empfindsamkeit“ (sensibilitá) für Leiden und Glück anderer Menschen auffasst.[114]
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Um diese Grundsätze im Strafrecht zur Anwendung zu bringen, verwendet Beccaria das in der Aufklärung hoch im Kurs stehende Denkmodell des Gesellschaftsvertrags:
„Die Gesetze sind die Bedingungen, unter denen unabhängige und isolierte Menschen sich in Gesellschaft zusammenfanden, Menschen, die es müde waren, in einem ständigen Zustand des Krieges zu leben und eine infolge der Ungewißheit ihrer Bewahrung unnütz gewordene Freiheit zu genießen. Sie opferten davon einen Teil, um des Restes in Sicherheit und Ruhe sich zu erfreuen. Die Summe aller dieser Teile von Freiheit, welche für das Wohl eines jeden geopfert wurden, macht die Souveränität einer Nation[115] aus, und der Herrscher ist ihr gesetzmäßiger Wahrer und Verwalter.“[116]
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Die Anknüpfung an Hobbes (s.o. Rn. 34 ff.) ist bis in den Wortlaut hinein erkennbar. Wie lässt sich daraus die staatliche Strafgewalt begründen? Beccarias Antwort lautet: Gegenüber solchen Menschen, die den Vertrag verletzten, sollen „fühlbare und hinreichende Motive“ geschaffen werden, „um den despotischen Geist eines jeden Menschen davor zu warnen, die Gesetze der Gesellschaft im vormaligen Chaos wieder untergehen zu lassen. Diese fühlbaren Motive sind die Strafen“.[117] Beccaria geht offenbar von einem einfachen Modell menschlicher Entscheidungen aus, die durch Motive und Gegenmotive bestimmt werden, so dass sie durch das Setzen geeigneter neuer Motive gelenkt werden können.[118]
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Zweck von Strafe ist die Verhinderung von schwerwiegenden Verstößen gegen die gesellschaftliche Ordnung durch Abschreckung,[119] aber auch durch Besserung der Einzelnen.[120] Beccaria verknüpft also general- und spezialpräventive Elemente. Um ihre Zwecke zu verwirklichen, müssen Strafen gewissen Bedingungen genügen. Vor allem müssen sie geeignet sein, ihr Ziel zu erreichen. Des Weiteren spricht sich Beccaria, seinem humanitätsorientierten Ansatz[121] folgend, dafür aus, dass Strafen nicht härter sein dürfen als zur Erreichung ihres Zwecks erforderlich. Grausame Strafen lehnt er ab.[122]
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Besonders bemerkenswert – auch im Kreis der Aufklärer – ist Beccarias entschiedene Kritik an der Todesstrafe.[123] Die Folter lehnt er ebenfalls ab, wobei er Argumente verwendet, die an Friedrich von Spee erinnern: Folter, so Beccaria, ist schon deshalb kein taugliches Mittel der Wahrheitsfindung, weil unter Folter jeder das einräumt, was der Befragende hören will.[124]
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Beccarias Werk war, wie bereits erwähnt (Rn. 66), Ausdruck des Geistes seiner Zeit. Es überrascht deshalb nicht, dass es unter den Intellektuellen kaum Widerspruch erregte. Die katholische Kirche hingegen setzte „Über Verbrechen und Strafen“ auf den Index der verbotenen Bücher, was den Erfolg des Werkes jedoch kaum behindern konnte. Der eng mit den französischen Enzyklopädisten verbundene André Morellet übersetzte das Buch bereits im Jahr seines Erscheinens in die französische Sprache und machte es so den Intellektuellen und Strafrechtsreformern in ganz Europa zugänglich. Morellet nahm dabei nicht unerhebliche Eingriffe in den Aufbau des Textes vor, die Beccaria zwar brieflich lobte, in den späteren Auflagen des Werkes aber nicht übernahm. Auch sonst war Beccarias Verhältnis zu den führenden Pariser Intellektuellen und Aufklärern nicht ohne Spannungen.[125]
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In der Gegenwart ist Beccaria vorgeworfen worden, einseitig in Zweck-Mittel-Zusammenhängen zu denken und daher die Perspektive „wahrer Gesetzlichheit“ zu verfehlen. Auch mangele es dem Werk an einem gedanklichen Instrumentarium, um das immer weiter ausgreifende Tätigwerden des Strafgesetzgebers, wie es für die Gegenwart charakteristisch sei, zu begrenzen.[126] Diese Vorwürfe sind allerdings unbegründet. Es trifft zwar zu, dass Beccaria, wie fast alle Aufklärer, die Zweck-Mittel-Perspektive bei Fragen der Gesellschaftsgestaltung und Justizreform besonders betonte. Dies bedeutet aber keine Schwäche, sondern eine Stärke seines Ansatzes:
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Erst ein Denken in Zweck-Mittel-Zusammenhängen erlaubt die Verwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, welchem für die Rationalisierung und Humanisierung der Strafrechtspflege entscheidende Bedeutung zukam: Strafen, die nicht einmal geeignet sind, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sind schon aus diesem Grund ungenügend. Sie müssen ferner erforderlich sein, es darf also kein anderes gleich wirksames Mittel geben, welches weniger in geschützte Rechtspositionen eingreift (näher → AT Bd. 1: Eric Hilgendorf, Strafrechspolitik und Rechtsgutslehre, § 17 Rn. 52 ff.).
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Es verdient besondere Beachtung, dass sich Fragen der Geeignetheit eines Mittels und seiner Erforderlichkeit grundsätzlich empirisch lösen lassen. Damit sind derartige Fragen anders diskutierbar als rein normative Fragestellungen. Über Faktenfragen lässt sich, wie schon die Alltagserfahrung lehrt, meist weit einfacher Konsens erzielen als über Fragen der Wertung. Hinzu kommt, dass die Einführung der Empirie die Zuhilfenahme wissenschaftlicher Erkenntnisse erheblich erleichtert. Die Erforschung der Wirkung von Strafe ist heute die Domäne der strafrechtlichen Sanktionenforschung und, allgemeiner, der Kriminologie. Das Denken in Zweck-Mittel-Zusammenhängen ist daher eine wesentliche Voraussetzung für die Verwissenschaftlichung des Nachdenkens über das Strafrecht.
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Richtig ist allerdings, dass damit über die zu verfolgenden Zwecke noch nichts ausgesagt ist. Diese Frage leitet in die Rechts- und Moralphilosophie über.[127] Für Beccaria und seine Zeitgenossen war klar, worum es ging: Die Abschaffung des unnötig grausamen und willkürlichen Strafrechts seiner Zeit zugunsten einer der Aufklärung und Humanität verpflichteten rationalen Strafrechtspflege. Im demokratischen Verfassungsstaat der Gegenwart ist die Entscheidung über die durch die Strafgesetze zu verfolgenden Ziele Sache des parlamentarischen Gesetzgebers. Historisch gesehen dürften die Erfahrungen mit diesem Modell wesentlich besser sein als diejenigen, die wir mit Strafgesetzgebern gemacht haben, die glaubten (oder glauben machen wollten), dass sie von menschlichen Entscheidungen unabhängigen normativen Vorgaben folgen.
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Die zweite gegen Beccaria gerichtete Kritik, nämlich dass er keine Handhabe gegen die bedenkliche Strafrechtsausweitung unserer Zeit böte (s.o. Rn. 74), überzeugt ebenfalls nicht. Beccaria behandelt das Thema gar nicht. Die Probleme unserer Zeit kannte er nicht und konnte sie auch nicht kennen. Immerhin ermöglicht das von Beccaria hochgehaltene Verhältnismäßigkeitsprinzip durchaus, einem übereifrigen Strafgesetzgeber Grenzen aufzuzeigen. Es sind dies allerdings, und darin wird man