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Eine besondere Bedeutung hatte wohl die bis in das Zeitalter der Aufklärung und darüber hinaus immer wieder erneuerte Vorstellung, eine Auflehnung gegen die weltliche Ordnung sei zugleich Sünde, also ein Verstoß gegen den Willen des Gottes. Mittels einer solchen Konstruktion ließen sich selbst für leichte Verfehlungen härteste Strafen rechtfertigen; sub specie dei konnten auch geringfügige Verletzungen weltlicher Güter als schwerwiegende Auflehnung gegen die göttliche Ordnung interpretiert werden. Humane Regungen und Zweifel, die es immer gab, konnten so unter Berufung auf den Willen der Gottheit zurückgewiesen werden.
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Das bekannteste Beispiel für die religiöse Durchdringung der Strafrechtspflege bilden die Hexenverfolgungen, die sich vom 15. bis zum 18. Jahrhundert in den meisten europäischen Staaten nachweisen lassen. Besonders betroffen war Deutschland, und hier die geistlichen Fürstentümer, wobei eine Rolle gespielt haben dürfte, dass in ihnen die weltliche und die geistliche Herrschaft zusammenfielen, so dass eine wechselseitige Abschwächung oder Kontrolle ausgeschlossen war.[23]
2. Abschnitt: Strafrechtsgeschichte › § 6 Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des heutigen Strafrechts in der Aufklärung › C. Gegenreaktionen und Aufbruch in eine neue Zeit
I. Kritik an den Hexenprozessen: Friedrich von Spee und die Cautio Criminalis
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Die extreme Grausamkeit und offenkundige Irrationalität vieler Hexenverfolgungen führte zu Gegenreaktionen. Einer der engagiertesten und einflussreichsten Kritiker war der Jesuit Friedrich von Spee (1591–1635),[24] in dessen „Cautio Criminalis“[25] (1631) bereits die Vorstellung erkennbar wird, das Strafrecht finde an individuellen Rechten des Menschen eine Grenze. Spee knüpft darin nicht nur an die christliche Tradition, sondern auch die antike Ethik und zentrale Rechtstexte der frühen Neuzeit an und verbindet diese theoretischen Elemente mit einem leidenschaftlichen, aus christlicher Barmherzigkeit gespeisten Eintreten für die gequälten Opfer.
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Zu seinen zentralen Forderungen gehören die Rückkehr zu einem geordneten rechtlichen Verfahren, um der Willkür der Verfolger Schranken zu setzen, die Suche nach natürlichen Ursachen für die den „Hexen“ zugeschriebenen Schäden sowie Mitgefühl und Menschlichkeit auch gegenüber den des Teufelspakts verdächtigten Frauen. Selbst genuin juristische Leitgedanken, wie die Bindung an das Gesetz und der Grundsatz, dass Menschen erst dann verurteilt werden dürften, wenn ihre Schuld zweifelsfrei festgestellt wurde („in dubio pro reo“) werden bei ihm formuliert.[26] Auf diese Weise nimmt Spee in der Cautio Criminalis zentrale Grundsätze der Strafrechtsaufklärung vorweg.
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Spees Schilderungen der Praxis der Hexenverfolgung gehören zu den erschütterndsten Beschreibungen der Kriminalrechtspraxis des 16. und 17. Jahrhunderts:
„Der Inquisitor lässt die Gefangene zu sich rufen. Er sagt, es sei ihr ja nicht unbekannt, weshalb sie gefangen sei, die und die Indizien seien gegen sie vorgebracht, sie solle sich also dazu äußern und sich rechtfertigen. Antwortet sie und widerlegt sie auch – wie ich es selbst oft erlebt habe – ganz genau die einzelnen Verdachtsmomente, sodass nicht das Geringste dagegen zu sagen ist und die Haltlosigkeit der ganzen Anklage mit Händen zu greifen ist, so wird ihr gleichwohl doch nur gesagt, sie solle in ihr Gefängnis zurückgehen und es sich besser überlegen, ob sie bei ihrem Leugnen bleiben wolle, man werde sie nach ein paar Stunden wieder rufen, und das ohne ein weiteres Wort, ohne dass näher auf ihre Einlassung eingegangen würde, gerade als ob sie in den Wind geredet oder den Steinen Märchen erzählt hätte. Während sie ins Gefängnis zurückgebracht wird, schreibt man ins Protokoll, die Angeklagte sei in der Vernehmung beim Leugnen geblieben, und es wird beschlossen, sie deshalb foltern zu lassen.“[27]
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Spees Argumentation ist nicht theologisch, sondern juristisch. Die Entschiedenheit, mit der er sich von den herrschenden Autoritäten emanzipiert und eigenständig Kritik übt, ist erstaunlich und weist auf das Leitmotiv der Aufklärung „Selbst denken!“ voraus. Wo Argumente im Kampf gegen bigotte Mordlust nicht mehr fruchten, greift Spee zu Sarkasmus und Spott.[28] Für einen Theologen sehr bemerkenswert ist auch Spees beständige Forderung, nach natürlichen Ursachen für Schäden zu suchen und ihre Entstehung nicht übernatürlichen Kräften, Geistern und Hexen zuzuschreiben. Der darin angelegte Naturalismus, also die Beschränkung auf das unseren Sinnen Zugängliche, ist ein zentrales Element aufklärerischen Denkens.
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Dasselbe gilt für Spees Hinwendung zum einzelnen Verfolgungsopfer, seine Wahrnehmung der geschundenen Frauen als Menschen, und nicht als „Hexen“. Auch diese bei Spee von christlicher Barmherzigkeit gespeiste Humanorientierung weist auf die Aufklärung voraus. Man wird deshalb so weit gehen dürfen, Friedrich von Spee als christlichen Frühaufklärer zu bezeichnen.[29]
II. Hugo Grotius als Wegbereiter eines säkularen Strafrechtskonzepts
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Hugo Grotius (1583–1645), der „Vater des Völkerrechts“ und Begründer der modernen Naturrechtslehre, hat auch für die Strafrechtswissenschaft Bedeutendes geleistet.[30] Seine Gedanken zum Strafrecht finden sich vor allem im 20. Kapitel des zweiten Buchs seines rechtstheoretischen Hauptwerks „De jure belli ac pacis“ (1625).[31] Mit Grotius kommt „eine völlig andere Denkart, als wie sie sonst in der Strafrechtswissenschaft, vor allem bei Carpzov, am Werk gewesen ist“[32] zum Durchbruch. Er löst das Strafrecht aus seinen theokratischen Grundlagen und drängt den Einfluss der Theologie zurück, er relativiert den Vergeltungsgedanken und macht so den Weg frei für ein am Gemeinwohl und der Humanität orientierten general- und spezialpräventiven Verständnis von Strafe.
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Das Naturrecht, so Grotius’ bekannte Bemerkung in der Vorrede von „De jure belli ac pacis“, würde auch dann gelten, wenn „man annähme, was freilich ohne die größte Sünde nicht geschehen könnte, dass es keinen Gott gäbe oder dass er sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht bekümmere.“[33] Strafe ist für ihn „in ihrer allgemeinen Bedeutung ein Übel, das man erleidet, weil man ein Übel getan hat.“[34] Wer Übles getan habe, so Grotius, müsse auch Übles erleiden.[35]
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Die darin liegende Anknüpfung an die überkommene Straftheorie wird sogleich deutlich abgeschwächt: Zwar beruhe das Vergeltungsbedürfnis auf einem natürlichen Trieb, doch dies bedeute nicht, dass es als vernünftig akzeptiert werden könne: „Die Vernunft gebietet aber, nichts vorzunehmen, was dem anderen schade, wenn man nicht einen guten Zweck dabei habe.“[36] Strafen müssen also aus ihren Vorteilen rechtfertigbar sein. Grotius nennt hier zum einen die Prävention zum Nutzen des Geschädigten selbst (dass die Tat nicht noch einmal an ihm begangen werde), zum anderen aber auch allgemein spezial- und generalpräventive Gesichtspunkte.[37]
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Grotius unterscheidet, hierin sich ebenfalls von älteren Anhängern einer absoluten Straftheorie absetzend, die Pflicht zur Bestrafung von dem Recht, eine Strafe zu verhängen. Nicht jede Straftat muss bestraft werden.[38]