III. Entstehung eines weltlichen öffentlichen Strafanspruchs
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Was die weltliche Ahndung von Delinquenz betrifft, lebt zunächst die Fehde als gewalttätige Selbsthilfe zwischen den Familienverbänden, wie sie bis zur Zeit des Frankenreiches ausgeübt worden ist, weiter. Seit dem 10. Jahrhundert versucht man das Fehdewesen einzudämmen, indem den kirchlicherseits ausgerufenen territorienbezogenen Gottesfrieden seitens der weltlichen Herrscher ebensolche Landfrieden nachgebildet werden. Noch im 12. Jahrhundert haben diese eher Vertrags- als Gesetzescharakter, und wenn der Vermittler bei Verstoß gegen das Fehdeverbot eine Sühneleistung (Stadt- oder Landesverweis, Bau einer Kapelle, „Friedensgeld“) anordnet, ist er Schlichtungsinstanz; gleichwohl haben die Sühneleistungen genugtuende und präventive (abschreckende) Wirkung – wie öffentliche Strafen.[52] Seit dem 12. Jahrhundert erlangt das peinliche Strafen steigenden, bald allgemein prägenden Einfluss. Neben der theologischen Stützung gründet seine politische Legitimation und Attraktivität in der Demonstration königlicher Herrschaftsgewalt; kriminologisch motiviert ist das peinliche Strafen durch die mit dem Anwachsen der Städte einhergehende Massenkriminalität sowie das kriminelle Potential insbesondere nichtsesshafter sozialer Randgruppen. Wenn dem Delinquenten zugestanden wird, die peinliche Strafe durch Geldleistung abzuwenden, so trifft die Härte der Vorschriften den Mittellosen, sozial Unterprivilegierten.[53]
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Einen epochemachenden theoretischen Anstoß erfährt das weltliche Recht zu Beginn des Hochmittelalters durch die Wiederentdeckung einer Handschrift des Corpus Juris Civilis im 10. Jahrhundert. Wie das Kirchenrecht wird nun auch diese Normensammlung nach neuen – systematisierenden – Gesichtspunkten bearbeitet, indem auslegungsbedürftige Passagen mit Randbemerkungen, sog. Glossen versehen werden, wobei zwischen den Glossatoren des 12. und 13. Jahrhunderts und den sogenannten Postglossatoren (Bartolus, Baldus) des 14. Jahrhunderts unterschieden wird. Das geografische Zentrum dieser Entwicklung ist die Universität Bologna, die seit der Mitte des 12. Jahrhunderts in der Rechtswissenschaft führend ist und Juristen aus ganz Europa ausbildet. Das römische und kirchliche Recht in seiner hochmittelalterlichen Rezeption bilden gemeinsam das ius commune, das (all-)gemeine Recht. Dieses Recht bildet europaweit einen einheitlichen Rahmen, in dem die partikularen Rechte der Reiche, Territorien und Städte gelten.[54] Wenn überhaupt von einer Geschichte des europäischen Strafrechts gesprochen werden kann, so liegt dies begründet im vereinheitlichenden Einfluss des gemeinen Rechts.
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Das jeweils spezifische territorial geltende Recht wird, nach einer im 13. Jahrhundert aufkommenden Praxis, in sog. Rechtsbüchern oder Spiegeln von privater Seite aufgezeichnet. Am wirkungsmächtigsten (vor dem Schwaben-, dem Deutschen- und dem Frankenspiegel), nämlich von europaweiter Ausstrahlungswirkung, ist der von dem sächsischen Adligen Eicke von Repgow zwischen 1220 und 1235 verfasste Sachsenspiegel, der auch das Strafkonzept und die Strafpraxis der Zeit exemplarisch verdeutlicht.[55] In Buch 2 Art. 13 sind – als systematisches Element – die Bestrafungen der verschiedenen Delikte zusammengeführt: „Den def scal man hengen.“ – Den Dieb soll man hängen, außer bei Geringwertigkeit der Beute (§ 1). Dieselbe Strafe trifft den, der Maße oder Gewichte fälscht oder beim Kauf täuscht (§ 3). Wer mordet, einen Pflug, eine Mühle, eine Kirche oder einen Friedhof (aus)raubt, desertiert oder durch Brandstiftung tötet, soll gerädert werden (§ 4, d.h. ihm werden – als besonders peinvolle Tötungsart – mittels eines eisenbeschlagenen Rades die Glieder gebrochen und er wird zwischen die Speichen des Rades geflochten, das dann auf einem Pfahl zur Schau gestellt wird). Wer einen anderen tötet oder der Freiheit beraubt, wer eine Brandstiftung ohne Todesfolge begeht, eine Frau oder ein Mädchen vergewaltigt, den Frieden bricht oder beim Ehebruch ergriffen wird, soll enthauptet werden (§ 5). Diebstahls- und Raubgehilfen und Hehler werden wie Diebe und Räuber bestraft (§ 6). Ketzerei, Hexerei (auch ohne Schadenserfolg) und Giftmischerei werden mit Verbrennung auf dem Scheiterhaufen bestraft (§ 7). Wer als Richter eine Straftat nicht ahndet, erleidet die Strafe dessen, den er hätte richten sollen (§ 8). Die peinliche Strafpraxis ist vom Talionsgedanken geprägt, der einerseits die Vergeltung hervorhebt, andererseits aber auch (mit Blick auf das Fehdewesen) begrenzend wirkt. Der Spiegelungscharakter, den die letzterwähnte Strafe, als konkret-anschauliche Spielart des Talionsgedankens, aufweist, findet sich auch in anderen territorialen Strafvorschriften, wenn etwa der, der einem anderen eine verstümmelnde Verletzung zufügt, zur Strafe selbst verstümmelt wird; wenn der, der einen anderen falsch verdächtigt, die Strafe des behaupteten Delikts erleiden soll; wenn der Meineid mit dem Abhauen des Schwurfingers oder dem Herausschneiden der Zunge geahndet wird. Neben den Todes- und Leibesstrafen kennt die mittelalterliche Strafpraxis (im Verbreitungsgrad umstritten) das Einsperren als Turm- oder Lochstrafe, das aufgrund der unerträglichen Haftbedingungen weniger als Freiheits- denn als Körperstrafe wirkt. Stigmatisierung bezwecken das Brandmarken und sichtbare Verstümmeln („Schlitzohr“). Im Spätmittelalter finden in der städtischen Strafpraxis Ehrenstrafen breite Anwendung: Der Delinquent wird an einem zentralen Ort der Stadt, fixiert an einem Schandpfahl oder Pranger, den allgemeinen Missachtungskundgebungen preisgegeben.[56]
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Wie wiederum der Sachsenspiegel belegt, weist das strafrechtliche Denken im 13. Jahrhundert nördlich der Alpen anschauungsgebundene und nichtsystematische, in sozialer Hinsicht die ständischen Unterschiede aufnehmende Aspekte auf. Die Notwehr wird für die Tötung entwickelt; hier wird derjenige nicht (voll) bestraft, der dies – auch wenn ihn Umstände daran hindern, den Leichnam mitzuführen – dem Gericht eigeninitiativ anzeigt; es verbleibt dann bei einer Bußzahlung (Buch 2 Art. 14).[57] Erfolgsgebunden ist auf Verletzungen bestimmter – einzeln aufgezählter – Körperteile eine vom Stand des Opfers abhängige Buße zu zahlen; Knechte erleiden Körperstrafen (Buch 2 Art. 16 §§ 1–7). Vom Stand des Opfers abhängig ist die Bußpflicht, wenn der Täter dieses – ehrenkränkend – körperlich misshandelt oder einen Lügner schilt (Buch 2 Art. 16 § 8). Einen die Strafe abwendenden Eid kann der Vater einmalig für seinen Sohn schwören (Buch 2 Art. 17). Die vorsatzlose Tötung eines Menschen oder Tiers führt lediglich zur Schadensersatzpflicht (Buch 2 Art. 38). Die Tötung des auf frischer Tat oder auf der Flucht betroffenen Friedebrechers bleibt sanktionslos (Buch 2 Art. 69). Wer – im einzelnen aufgezählte – irrtümlich für eigene gehaltene Gegenstände mitnimmt, kann sich vom Vorwurf des Diebstahls reinigen (Buch 3 Art. 89). Zur prozessualen Entlastung steht dem Dieb und Räuber nicht der Eid, sondern das Ergreifen eines glühenden Eisens, die Kesselprobe (Hineingreifen bis zum Ellenbogen) oder das Antreten gegen einen professionellen Kämpfer zur Verfügung (Buch 1 Art. 39).[58]
2. Abschnitt: Strafrechtsgeschichte › § 5 Geschichte des europäischen Strafrechts bis zum Reformationszeitalter › E. Das Reformationszeitalter (1500–1650)
I. Renaissance, Humanismus und gelehrtes Recht
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Als Renaissance bezeichnet man die Epoche im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, die den Zeitraum von der zweiten Hälfte des 14. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts umfasst. Renaissance (frz., wörtlich Wiedergeburt) meint die Erneuerung des antiken Bildungsideals, in dessen Zentrum die freie Persönlichkeit des Menschen steht, wie es der Begriff Humanismus (das literarisch-philosophische Konzept der Renaissance) zum Ausdruck bringt. Zu dieser von Italien ausgehenden Bewegung gehören die Dichter Francesco Petrarca (1304–1374) und Giovanni Boccaccio (1313–1375) wie das Universalgenie Leonardo da Vinci (1452–1519). Die Denker der Renaissance sind einzelne selbstbewusste Persönlichkeiten, die sich am politischen Leben teils aktiv beteiligen. Institutionell löst sich die humanistische Philosophie von der Kirche,