Die Festlegung des Gesellschaftsstatuts ist in erster Linie eine Frage, die nach dem jeweiligen Internationalen Privatrecht zu beantworten ist, welches nationales Recht darstellt. Für den Bereich der Europäischen Union wird das nationale Recht jedoch durch Europarecht überlagert, das nicht zuletzt durch die Rspr. des EuGH geprägt wird. Für das Gesellschaftsstatut gibt es im Wesentlichen zwei Anknüpfungsmethoden, die Sitztheorie und die Gründungstheorie. Nach der Sitztheorie ist diejenige Rechtsordnung anzuwenden, die an dem tatsächlichen Verwaltungssitz des Unternehmens gilt. Nach der Gründungstheorie gilt die Rechtsordnung, nach deren Bestimmungen der Gesellschaftsvertrag geschlossen worden ist.
Beispiel:
Verlegt eine belgische Gesellschaft, die in Brüssel gegründet worden ist, ihren Hauptsitz und den Schwerpunkt der Geschäftstätigkeit nach Berlin, so wäre nach der Sitztheorie auf diese Gesellschaft nun deutsches Recht anwendbar. Anders wäre es nach der Gründungstheorie; es fände weiterhin belgisches Recht Anwendung.
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Innerhalb der EU führt die Anwendung der Sitztheorie zu Schwierigkeiten, da die Gesellschaften nach Art. 49 und Art. 54 AEU-Vertrag Niederlassungsfreiheit und nach Art. 56 und Art. 62 AEU-Vertrag Dienstleistungsfreiheit genießen. Der EuGH[9] hat in einem Fall, in dem es um die Anerkennung der Rechts- und Parteifähigkeit einer ausländischen Gesellschaft durch ein deutsches Gericht ging, entschieden, es verstoße gegen die Art. 49 und Art. 54 AEU-Vertrag, wenn einer Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaates, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, gegründet worden ist und von der nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaates angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz dorthin verlegt hat, in diesem Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit und die Parteifähigkeit abgesprochen wird. Das bedeutet: Macht eine Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaates gegründet worden ist, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, in einem anderen Mitgliedstaat von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch, so ist dieser andere Mitgliedstaat nach den Art. 49 und Art. 54 AEU-Vertrag verpflichtet, die Rechtsfähigkeit und damit auch die Parteifähigkeit zu respektieren, die diese Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungsstaates besitzt[10].
Mit einer Entscheidung zum grenzüberschreitenden Formwechsel hat der EuGH[11] die Vorgaben der Art. 49, 54 AEU-Vertrag für die Anerkennung, Sitzverlegung und Umwandlung von Gesellschaften innerhalb der EU konkretisiert. Nach diesem Urteil haben die Mitgliedstaaten der ausländischen Gesellschaft den Wechsel in eine nationale Rechtsform unter denselben Bedingungen zu gestatten wie einer inländischen Gesellschaft.[12]
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Für die sachliche Anwendung der sog. Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts ist entscheidend, dass die ausgeübte Tätigkeit zum Wirtschaftsleben i. S. des Art. 2 EGV (im Wesentlichen ersetzt durch Art. 3 AEU-Vertrag) zählt. Ein Idealverein, der nicht gewinnorientiert als Wettbewerber zu kommerziellen Unternehmen am Markt auftritt, kann die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 und Art. 54 AEU-Vertrag nicht für sich in Anspruch nehmen[13].
Was die Bestimmung des Gesellschaftsstatuts für Gesellschaften angeht, die nicht nach dem Recht eines EU-Mitgliedstaates, sondern nach dem eines Drittstaates gegründet worden sind, so hält der BGH[14] an der Sitztheorie fest, weil sich diese Gesellschaften nicht auf die Niederlassungsfreiheit nach Europarecht berufen können[15].
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Lösung zu Fall 1:
Die Entscheidung des deutschen Gerichts könnte gegen europäisches Recht verstoßen. Die Gesellschaft hat von ihrem Niederlassungsfreiheit Gebrauch gemacht. Die Gerichte der Mitgliedstaaten sind deshalb gem. Art. 49 und Art. 54 AEU-Vertrag verpflichtet, die Rechts- und Parteifähigkeit so zu respektieren, wie sie nach dem Recht des Gründungsstaates gewährt wird. Einer Gesellschaft, die in den Niederlanden nach dem Recht dieses Staates gegründet worden und nach niederländischem Recht rechts- und parteifähig ist, darf deshalb für den Fall, dass der Hauptsitz der Gesellschaft nach Deutschland verlegt worden ist, von einem deutschen Gericht unter Berufung auf deutsches Recht nicht die Rechts- und Parteifähigkeit nicht abgesprochen werden.
Anmerkungen
Dazu und zum Verbandsbegriff K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 7 I.
Ballerstedt, FS Duden, S. 15, 28.
S. zu alldem Schneeloch, insb. S. 95 ff.
Röhricht, ZIP 2005, 505, 506.
Röhricht, ZIP 2005, 505 ff.
Zu Einzelheiten Hopt, ZIP 1998, 96, 103.
S. dazu Hopt, ZIP 2005, 461 ff.
Hofmeister, WM 2007, 868 mit Nachw.
Urt. vom 5.11.2002, ZIP 2002, 2372.
Dazu v. Halen, WM 2003, 571 ff.
EuGH, ZIP2012, 1394.
W. Schön, ZGR 2013, 333.
OLG Zweibrücken MDR 2006, 219 f.
WM 2002, 1929.
Zu den Einzelheiten s. Hofmeister, WM 2007, 868, 872.
Teil I Grundlagen und Grundbegriffe des Gesellschaftsrechts › § 2 Organisationsformen im wirtschaftlichen Bereich
§ 2 Organisationsformen im wirtschaftlichen Bereich
Inhaltsverzeichnis
II. Personengesellschaften und juristische Personen