Aufgabe des IPR ist es nicht, die Antwort auf die Rechtsfrage in der Sache zu liefern (im Beispiel Rn. 2: Ist dem Scheidungsantrag zu entsprechen?), sondern die vorgelagerte Frage zu klären, welches Sachrecht (z.B. deutsches BGB, französischer Code Civil, italienischer Codice Civile etc.) zur Ermittlung des Ergebnisses überhaupt heranzuziehen ist.
Beispiel
Wenn anders als im obigen Beispiel (Rn. 2) F und E nicht deutsche sondern französische Staatsangehörige sind, wird sich das deutsche Gericht aufgrund des jetzt bestehenden Auslandsbezugs zunächst die Frage stellen, ob es das BGB oder den französischen Code Civile anzuwenden hat. Allein darüber entscheidet das IPR.
Wie das vorliegende Beispiel zeigt, kann diese „Vorentscheidung“ das Gesamtergebnis durchaus beeinflussen: Im französischen Familienrecht ist der Scheidungsantrag im Unterschied zu § 1566 BGB an keine Frist des Getrenntlebens gebunden, sodass das Gericht dem Scheidungsantrag der F anders als im obigen Beispiel (Rn. 2) entsprechen müsste, wenn französisches Scheidungsrecht anwendbar wäre.
Anmerkungen
Zitiert nach Spiegel Online vom 8.10.2010, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/familien-und-erbrechtsfaelle-deutsche-gerichte-wenden-scharia-an-a-722220.html (Abruf hier und im Folgenden jeweils vom 10.8.2018).
Verletzt das deutsche Gericht seine Pflicht aus § 293 ZPO zur Ermittlung ausländischen Rechts, kann diese Rechtsverletzung mit dem Rechtsmittel der Revision als Verfahrensrüge geltend gemacht werden (vgl. BGH NJW 2014, 1244 sowie BGH NJW 1992, 2026, 2029). Die fehlerhafte Anwendung ausländischen Rechts ist hingegen nicht revisibel nach § 545 Abs. 1 ZPO (siehe BGH JZ 2014, 102 = NJW 2013, 3656 m. Anm. Riehm JZ 2014, 73 sowie Roth NJW 2014, 1224).
Vgl. nur Kadner Graziano AD LEGENDUM 2013, 136, 138 f.
Vgl. Kadner Graziano AD LEGENDUM 2013, 136, 143.
1. Teil Einführung und Überblick › C. Ziele des IPR
C. Ziele des IPR
4
Jede Rechtsordnung ist auf Inlandsfälle zugeschnitten, für die sie eine gerechte Lösung als Idealziel bereit zu halten versucht. Was jedoch bei Inlandssachverhalten gerecht sein mag, kann bei Fällen mit Auslandsbezug wegen der unterschiedlichen rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten zu offensichtlichen Ungerechtigkeiten führen. Um dies zu vermeiden, versucht das IPR diejenige Rechtsordnung zur Anwendung zu bringen, die dem Auslandssachverhalt am nächsten steht und deshalb für gerechte Entscheidungen am ehesten geeignet ist (sog. „Prinzip der engsten Verbindung“). Dabei gilt für Sachverhalte mit überwiegendem Auslandsbezug die Anwendung ausländischen Rechts als im Grundsatz angemessener.[1]
5
Das dem Ideal der Gerechtigkeit verpflichtete „Prinzip der engsten Verbindung“ ist jedoch in hohem Maße unbestimmt. Es geht auf Kosten eines anderen Idealziels: Dem der Rechtssicherheit, das für berechenbare Entscheidungen feste Regeln fordert. Um beiden Idealzielen möglichst nahe zu kommen, folgen internationalprivatrechtliche Vorschriften (Kollisionsnormen) einer Mischung aus festen Regeln und dem flexiblen „Prinzip der engsten Verbindung“.
6
Als drittes Ziel verfolgt das IPR größtmöglichen Entscheidungseinklang.[2] Damit ist zum einen gemeint, dass der Ausgang eines Rechtsstreits nicht davon abhängen soll, ob der Kläger im In- oder im Ausland klagt; stattdessen soll dieselbe Rechtsfrage möglichst in allen Staaten nach demselben Recht beurteilt werden (sog. internationaler Entscheidungseinklang). Zum anderen sollen dieselben Rechtsfragen durch inländische Gerichte und Behörden möglichst einheitlich beurteilt werden (sog. interner Entscheidungseinklang). Denn es wäre nicht sachgerecht, wenn z.B. eine Ehe von der Passbehörde bei der Namenseintragung als wirksam angesehen wird, das Gericht dem Ehegatten jedoch deshalb kein Zeugnisverweigerungsrecht einräumt, weil es von der Unwirksamkeit der Ehe ausgeht.
Anmerkungen
Kropholler IPR § 4 I S. 24.
Sendmeyer JURA 2011, 588, 589.
1. Teil Einführung und Überblick › D. Systematik des inländischen IPR
D. Systematik des inländischen IPR
7
Das IPR besteht aus einem allgemeinen (Art. 3–6 EGBGB[1]) und einem besonderen Teil (Art. 7–46). Wie im BGB enthält der kurze allgemeine Teil Grundregeln, die grundsätzlich auf allen Gebieten des IPR gelten.[2] Anders als im BGB gehören das Recht der natürlichen Personen und der Rechtsgeschäfte (Art. 7–12) nicht zum allgemeinen Teil, sondern bilden den Auftakt zum besonderen Teil des IPR. Dieser gliedert sich weiter in das Internationale Familienrecht (Art. 13–24), das Internationale Erbrecht (Art. 25–26), das seit dem 17.8.2015 durch vorrangiges Verordnungsrecht (EuErbVO) geregelt wird, das Recht der außervertraglichen Schuldverhältnisse (Art. 38–42), das jedoch seit dem 11.1.2009 weitgehend durch europäisches Verordnungsrecht (Rom II-VO) verdrängt wird, und das Internationale Sachenrecht (Art. 42–46). Nicht mehr im EGBGB enthalten ist das Internationale Vertragsrecht. Es hat sich bis zum 17.12.2009 in den mittlerweile aufgehobenen Art. 27–37 EGBGB a.F. befunden. Seit dem 17.12.2009 ist es durch die Rom I-VO europäisch einheitlich geregelt. Bislang nicht kodifiziert ist das Internationale Gesellschaftsrecht. Es beruht weitgehend auf Richterrecht.
Anmerkungen
Artikel ohne Gesetzesbezeichnung sind im Folgenden solche des EGBGB.
Der europäische Gesetzgeber ist zwar bereits auf zahlreichen Gebieten des IPR tätig geworden; einen allgemeinen Teil hat er für das europäische IPR aber bislang nicht erlassen. Ausführlich zur Erforderlichkeit eines solchen allgemeinen Teils (plastisch als „Rom 0-VO“ bezeichnet) Kieninger IPRax 2017, 200, 205 ff.; Leible in: FS Martiny 2014, 429 ff.; Hinweise zu einem Normierungsvorschlag finden sich in Mansel/Thorn/Wagner IPRax 2013, 1, 2.
1. Teil Einführung und Überblick › E. Historische Entwicklung
E.